Freitag, 23. Februar 2018

Low-Carb Mythen (1)

Je länger ich mich wieder "klassisch paleo" und damit nicht-ketogen ernähre, desto weniger werden auch sämtliche muskulären Probleme, die mich in den letzten Monaten massiv geplagt hatten und vor allem: Mein Knie macht nur noch seltenst Zicken irgendwelcher Art. Bald wird der Tag kommen, an dem ich wieder mal ein Läufchen wagen werde.

Was hab ich mir da nur mit der ketogenen Paleo-Variante eingebrockt? Ich hab ja in den letzten Beiträgen schon das ein oder andere deutliche Wort gefunden, aber nun scheint es angebracht den Mythen der Low-Carb-Szene, insbesondere der ketogenen Low-Carb-Varianten wie LCHF auf den Zahn zu fühlen. In lockerer Folge will ich das mal versuchen und schneide gleich zum Beginn mal die Frage an, ob denn der Mensch überhaupt Kohlenhydrate zuführen muss, um überleben zu können, sprich: ob diese essentiell sind.
von Robert Bock

Man könnte die Frage eigentlich recht flott mit einem Nein beantworten, aber so einfach ist es nicht. Behaupten doch zahlreiche "Gurus" der Szene, dass Kohlenhydrate im Grunde lediglich Energielieferanten sind, aber für den Strukturstoffwechsel unseres Körpers, für die Bildung von Knochen, Muskeln, Sehnen, Zellen jeder Art, eigentlich keine Rolle spielen würden.

Insofern also entbehrlich, da unser Körper ja schließlich auch aus Fett und (über den Umweg der Gluconeogenese) Glucose aus Proteinen und der Glyzerinbrücke der Triglyzeride bilden könne und Fett ein den Kohlenhydraten mindestens ebenbürdiger Energielieferant sei. Seien es die freien Fettsäuren oder die Ketone. Kohlenhydrate? Überflüssig. Braucht man nicht essen oder trinken. So der "Conventional Wisdom".... .

Doch das, liebe Freunde der extremen Kohlenhydratrestriktion, ist so nicht richtig, denn es ist sehr wohl so, dass unser Körper Kohlenhydrate in Körpersubstanz einbindet - und ich spreche nicht von Leber- oder Muskelglykogen, also blossem Energiespeicher.

Ich spreche von langfristig (über)lebensnotwendigen Strukturen wie "Mucus" (vulgo: Schleim), den wir z.B. für das Funktionieren unserer Atemwege und unserer Darmschleimhaut benötigen. Ich spreche von Hyaluronan, das wir für die Schmierung unserer Gelenke und auch Zellmembrane brauchen. Auch bestimmte Bindegewebsstrukturen kommen auf Dauer ohne diese Substanz nicht aus.

Hinter diesen, für das dauerhaft reibungslose Funktionieren unseres Körpers notwenigen Substanzen verbergen sich oberbegrifflich "Glykoproteine". Verbindungen von Kohlenhydraten und Proteinen. Ohne Kohlenhydrate keine Glykoproteine, ohne Glykoproteine kein Leben.

Der täglich notwendige Bedarf an Kohlenhydraten alleine zur Produktion der Glykoproteine wird auf 200 kcal pro Tag geschätzt. Das entspricht 50 g Kohlenhydraten pro Tag für die Produktion der ca. 2 Millionen Glykoproteine, auf die unser Körper regelmässig zurückgreift. Hyaluronan verbraucht dabei tagtäglich 5 g an Kohlenhydraten.

Kohlenhydrate verbinden sich aber nicht nur mit Proteinen zu Bausubstanz  für den Strukturstoffwechsel, sondern auch mit Fetten. Dann spricht man von Glykolipiden. Solche kommen in allen Formen von Körpergeweben vor. 10% der Trockensubstanz unseres Gehirns besteht z.B. aus Substanzen, die zu den Glykolipiden zählen. Konkrete Zahlen, wie viel Bedarf an Kohlenhydraten für die Produktion von Glykolipiden benötigt werden, hab ich leider bislang nicht gefunden.

Was hat das alles mit Low-Carb zu tun? Nun, wenn im Kontext ketogener Ernährung wie z.B. LCHF mit einer Kohlenhydratzufuhr von unter 50g/d gearbeitet wird, teils auch runter in den einstelligen Bereich, dann deckt das weder den Glucosebedarf des Gehirns, selbst wenn dieses bereits optimal ketoadaptiert ist (ca. 20-30% der Energieversorgung des Gehirns müssen zwingend über Glucose erfolgen und nebenbei bemerkt gibt es neben dem Gehirn noch ein paar weitere Zelltypen, die zwingend auf Glucose angewiesen sind und nicht mit Lipiden oder Ketonen arbeiten können), noch den völlig ausgeblendeten Bedarf an Glucose für die Produktion der Glykoproteine und Glykolipide.

Wenn wir uns mangels Daten für die Glykolipide auf die Glykoproteine beschränken, dann stellt sich die Frage, wo bei einer ketogenen Ernährung dann die fehlenden 50g/d an KH herkommen sollen?

Richtig: Nahrung oder Körpersubstanz. Entweder über KH direkt, dann aber bricht die Ketose zusammen, oder über Proteine. Um über Gluconeogenese 50g Glucose aus Proteinen herzustellen, muss man rund 86g Proteine zusätzlich zu den Proteinmengen zuführen, die man für die lehrbuchmäßige Versorgung des Gehirns und den Erhalt von Körpersubstanz braucht, will man keine Muskulatur abbauen.

Will ja i.d.R. niemand, der z.B. mit LCHF abnehmen will, denn Abbau von Muskulatur bedeutet Absenken des Grundumsatzes. Und das bedeutet über kurz oder lang bei gleicher Nahrungszufuhr Stagnation auf der Waage und die Gefahr des Jojo-Effekts, wenn man mal "sündigt", wie es so zweifelhaft schön genannt wird.

Wo ist das Problem - futtern wir halt zusätzlich ca. 300-400g Fleisch am Tag? Zusätzliche rund 86g Protein pro Tag bedeuten aber eben auch (je nach Proteinquelle) potenziell mehr Purine und damit anfallende und ausscheidungspflichtige Harnsäure. Nicht nur das: Auch höhere Mengen an Ammoniak, der im Proteinstoffwechsel entsteht und ausgeschieden werden muss. Zudem können - je nach Konstitution des betreffenden Menschen - bei solch hohen Proteinmengen die Kapazitäten der Leber überfordert werden, mit all den giftigen Nebenprodukten des Proteinstoffwechsels umgehen zu können. Im allgemeinen setzt man die Grenze bei ca. 3,3g/kg/d an Protein an, ab der es definitiv kritisch diesbezüglich wird. Schließlich: Wohin mit all den nicht-glucogenen Aminosäuren, aus denen der Körper keine Glucose basteln kann, die man da zusätzlich zuführt? Wir sprechen von grob gesagt 36g/d? Was nicht verbaut werden kann, muss raus. Was raus muss, zwingt die Ausscheidungsorgane zu Zusatzschichten. Das wird nicht auf Dauer gut gehen.


Verzichte ich aber auf die notwendige Zufuhr der zusätzlichen mindestens (immer dran denken: den Bedarf für die Glykolipide hab ich gar noch nicht reingerechnet!) 86g an Proteinen aus denen dann 50g KH gebastelt werden können, dann kommt die Produktion der Glykoproteine und Glykolipide in Engpasslagen. Die Folgen können Probleme mit den Gelenken sein aber auch Darmkrebs wird mit unzureichender Schleimversorgung des Darmes in Verbindung gebracht.  Über weitere Gesundheitsprobleme will ich nicht spekulieren, dazu hab ich mich auch noch nicht eingehend genug mit dem Thema beschäftigt.

Kann also ketogene Ernährung wie LCHF auf lange Sicht - und strikt nach Lehrbuch betrieben - zu erheblichen Gesundheitsproblemen führen? Konkrete epidemiologische oder gar kontrollierte klinische Studien gibts leider (noch) keine, aber die biochemischen Zusammenhänge legen die Formulierung entsprechender Hypothesen auf jeden Fall nahe.

Unterm Strich: Kohlenhydrate sind nicht ledigliche "Energiespender", sondern finden auch in Form von Glykoproteinen und Glykolipiden Verwendung bei der Genese von Körpersubstanz. Dieser Fakt wird i.d.R. in der einschlägigen Literatur zu Low-Carb-Konzepten schlicht unterschlagen. Sämtliche Bedarfsrechnereien, wie sie in Low-Carb-Kreisen angestellt werden und die zu Zufuhrmengen von unter 50g führen, sind somit für die Tonne. Stabile dauerhafte Ketose verträgt sich bei den meisten Menschen nicht mit einer ausreichenden Bildungskapaziät für Glykoproteine und Glykolipide und umgekehrt. Dito kann Ketose als Dauerzustand alleine aus diesem Zusammenhang heraus betrachtet kein gesundes Konzept sein.

Re-Post vom 27.07.2013