Dienstag, 6. Oktober 2015

Never-Ever Paleo: Süßkartoffeln (Sweet Potatoes)

Photo by miya, wikicommons
Da erjagt und ersammelt Olga doch neulich bei Edeka tatsächlich ein paar dieser komischen Süßkartoffeln. Ich frag sie, welches Schwein sie damit zu füttern vorhätte, und wisst Ihr, was die Kleine mir antwortet? "Na Dich!" 
Man sollte hart im Nehmen sein, mit einer Russin an seiner Seite, sonst erschlägt einen der manchmal herbe Charme der Taiga.

Wir haben Süßkartoffelpuffer mit Speck daraus gemacht, die schmeckten ... najaaa. Bis zu diesem Tag hatte ich mich nicht intensiver mit Süßkartoffeln beschäftigt und auch bewußt nur sehr selten mal irgendwo gegessen. Nun, das Zeug schmeckte nicht mal übel (Olga ist allerdings der Überzeugung, dass selbst Pappkarton mit ein wenig Speck zu einer kulinarischen Sensation würde), mein Kenntnisstand war, dass diese rotbraunen, länglichen Dinger paleotechnisch akzeptabel seien, ich wurde neugierig und so habe ich ein wenig recherchiert.

Hätte er das mal lieber bleiben lassen, höre ich Euch schon aufstöhnen ...

Ich werde heute, als Ergebnis meiner Recherche, nämlich der Süßkartoffel, einem neben Nussmehlen und Cassava/Maniok weiteren "Lieblingsausweichprodukt" der Paleo-Szene, den Platz zuweisen müssen, den sie im manchmal harte Schatten schlagenden Lichte der ernährungsphysiologischen Faktenlage m.E. verdient hat: Den Platz außerhalb Eures Einkaufskorbes, fern Eurer Küche und noch ferner Eures Verdauungstraktes.
von Robert Bock

Tut mir leid, wenn ich wieder einmal den Spielverderber gebe, geneigte Leserinnen und Leser, aber wer sich in punkto paleokonformer Ernährung selbst verarschen will, der kann das nach Belieben tun - wer andere vorsätzlich oder fahrlässig verarscht, dem sollte m.E. im Interesse der Sache die rote Karte gezeigt werden. Das Paleo-Konzept sollte durch wirtschaftliche oder Gewohnheiten des Gaumens motivierte Partikularinteressen nicht verwässert werden, sonst gleitet es nach und nach in Beliebigkeit ab! Genau deshalb lege ich immer wieder mal den Finger in die teils sperrangelweit offenen Wunden des wildwuchernden Urzeit-Waldes im World Wide Web. (Ich liebe - wie weiland Wagner - Alliterationen.)

Die Süßkartoffel wird von vielen Paleo-Freunden als Surrogat für die klassische Speisekartoffel verwendet. Unsere klassischen Kartoffeln sind, so formuliert die Szene gerne plakativ, "böse", sind Nachtschattengewächse (ich sehe da vor meinem inneren Auge immer bei Vollmond aus Gräbern wachsende Hände...), enthalten Solanin und anderweitige Antinutrients, die sich selbst durchs Kochen nicht gänzlich beseitigen lassen, sind roh giftig, ziemlich reich an - ebenfalls "bösen" - Kohlenhydraten, weshalb sie uns eine (zu?) hohe glykämische Last auferlegen, stammen aus Süd- und Mittelamerika und außer Pelé, Diego Maradonna, Lionel Messi, Astor Piazzola, dem Tango sowie ein paar lesenwerten Schriftstellern, kam von dort m.E. in der Summe ziemlich wenig wirklich Unvergessliches und Unverzichtbares in die alte Welt, dafür aber Horden nerviger, Panflötenterror verbreitender Fußgängerzonenmusikanten, Nachtschattengewächse, Mais, Cassava, Süßkartoffeln und die Verrohung der Weinveredelung durch getoastete Holzchips statt langer Hege und Pflege der edlen Tropfen in traditionellen Barriquefässern.

Die Kartoffelknollen zählten, qua geographischer Herkunft - wie alle Nachtschattengewächse - nicht zu den Nahrungsgrundlagen unserer afrikanischen Urahnen, mit denen deren Stoffwechsel evolvierte, was zur Folge hat, dass wir Kartoffeln mittels geeigneter Technologie denaturieren müssen, weil die Mühlen der Evolution nicht lange genug mahlen konnten, um unser enzymatisches Systems mit den notwenigen Werkzeugen aufzurüsten, die die Antinutrients dieser Gattung unschädlich machen würden. Selbst die Süd- und Mittelamerikaner, deren Ahnen wesentlich mehr Zeit hatten, sich an ihren Fraß zu gewöhnen, sind dazu nicht in der Lage und müssen die Kartoffeln vor dem Verzehr denaturieren.

In unseren Breiten war es gar erst der Preussenkönig Friedrich II., der mittels seines "Kartoffelbefehls" im Jahre 1746 die anfangs ganz und gar nicht beliebte Knolle überhaupt erst in den Speiseplan einführte. Macht Euch das mal klar: Die Kartoffel kennt unsere Küche erst seit 268 Jahren! Soviel zu den angeblich uralten Traditionen regionaler deutscher Küchen. Was wären manche regionalen italienischen Küchen ohne Tomaten, ohne Polenta? Tja... die gleiche Geschichte: Die Traditionen, wurzeln in Wahrheit nicht allzu tief im Humus der Geschichte europäischer Esskultur.

Kartoffeln sind nicht paleokonform - hierin ist man sich in der Szene einig, auch wenn ausgerechnet ein weltführender Paleoernährungsforscher wie Staffan Lindeberg in einer TV-Doku doch tatsächlich Kartoffeln in seinem Ofengemüse drin hatte und damit eine Lawine des Erstaunens bis hin zu offener Entrüstung in der Szene auslöste.

Die Süßkartoffel hingegen sei "gut", steht in allerlei Quellen - insbesondere solchen aus den USA, wo die Knolle eine deutlich größere Bedeutung in der Ernährung hat, als in Europa. Die USA baut sie auch selbst an. Das sollte man wissen.

  • Kein Nachtschattengewächs, keine vollmondbeschienenen Hände, die durch Gräberhügel brechen - Hurra!
  • So gut wie frei von Antinutrients sei die Knolle, heißt es - Hurra!!
  • Also: paleo!
Hurra! Hurra! Hurra!

STOP! 
Bullshit-Alarm.....

Die Süßkartoffel, schreibt Wikipedia, "((Ipomoea batatas, auch Batate, Weiße Kartoffel oder Knollenwinde genannt) ist eine Nutzpflanze, die zu den Windengewächsen (Convolvulaceae) gehört. Vor allem die unterirdischen Speicherwurzeln, aber zum Teil auch die Laubblätter werden als Nahrungsmittel genutzt. Mit einer Jahresernte von 126 Millionen Tonnen ist sie nach Kartoffeln (Solanum tuberosum) und [Cassava/]Maniok (Manihot esculenta) auf dem dritten Platz der Weltproduktion von Wurzel- und Knollennahrungspflanzen; größter Produzent ist die Volksrepublik China. Mit der Kartoffel (Solanum tuberosum) ist die Süßkartoffel nur entfernt verwandt."
Beheimatet ist sie urspünglich in Mittelamerika und freigelassene Sklaven brachten sie zurück in ihre afrikanische Heimat.Von dort aus, verbreitete sie sich dann weiter in den warmen Klimazonen rund um die Welt.

Antinutrients? Bei Wikipedia - in der deutschen wie der englischen Ausgabe: Fehlanzeige. Doch das muß nicht viel bedeuten, denn ich habe keine blauen Augen, bin Hochschullehrer für Marketing und Marktforschung und von daher bin ich vertraut mit den Praktiken der Public Relations. Die wirtschaftlichen Interessen der Agrarwirtschaft, die unreflektierte Pflanzenkostpropaganda offizieller Fachgesellschaften nebst veganer Hirnvernebelungen, sorgen schon dafür, dass unappetitliche Wahrheiten herausgefiltert werden, die dem Geschäft schaden könnten. Die Süßkartoffel ist (noch) kein Agrarprodukt das im Mittelpunkt eines breiteren öffentlichen Interesses stehen würde und so können die PR-Knechte auf offenen Plattformen inkognito nahezu schalten und walten wie sie wollen.

Was bin ich froh, dass es in der Primärliteratur aber zur Süßkartoffel höchst unschöne Details zu finden gibt, und dass mir eine seriöse Organisation wie die OECD eine ganze Menge an Detektivarbeit abgenommen hat, als sie den Stand der Forschung zur Süßkartoffel bis zum Jahr 2010 in einem 40-seitigen Sonderbericht zusammengefasst hat. Diesen könnt Ihr Euch hier anschauen.

Auf den Seiten 27 und 28 dieses Berichts der OECD findet sich eine Darstellung der in Süßkartoffeln enthaltenen Antinutrients, Toxine und Allergene. Und auf die sollte man dann doch mal einen Blick werfen, bevor man sich einen Rohkostsalat aus geraspelten Süßkartoffeln zubereitet, wie ich ihn dieser Tage bei einer meiner Lieblings-Paleo-Köchinnen in ihrem Blog (leider) entdecken durfte/mußte.

Antinutrients:
  • Oxalate: Die OECD warnt vor allem vor dem Rohverzehr der Blätter der Süßkartoffelpflanze. Dürfte in unseren Breiten im Gegensatz zu den Anbaugebieten eher unerheblich sein, da die Blätter bei uns wohl kaum jemand konsumieren wird bzw. diese gar nicht auf dem deutschen Markt zu haben sein dürften. Aber auch die Knollen sind laut OECD und der von ihr verwendeten Fachliteratur nicht ganz ohne, und weisen freie Oxalate und Calziumoxalate im Rahmen dessen auf, was in anderen Wurzelgemüsen (Rote Beete zb) auch zu finden ist. Oxalate binden Mineralstoffe, insbesondere Calzium, und folglich können Defizite an diesem Mineral entstehen. Die Oxalate in den Blättern kann man durch Kochen in Wasser weitestgehend auswaschen, im Fall der Knollen ist dies deutlich schlechter möglich.
  • Trypsin-Inhibitoren: Die kennt man ansonsten vor allem von den Hülsenfrüchten und sie hemmen das Enzym Trypsin, das für die Zerlegung von Proteinen in Aminosäuren zuständig ist. Es handelt sich also um einen Proteasehemmer. Die Süßkartoffel ist übrigens die erste Nutzpflanze außerhalb der Gattung der Hülsenfrüchte, in der Trypsininhibitoren gefunden wurden. (Again what learned, würde Lothar Matthäus sagen). Der in der Süßkartoffel enthaltene Trysininhibitor wirkt zudem besonders stark und die OECD weist wohl deshalb auch darauf hin, dass es keineswegs ratsam sei, die Süßkartoffel roh zu verzehren. Gründliches Erhitzen über 100 Grad Celsius reduziert den Gehalt an diesem Proteasehemmer aber beseitigt ihn nicht gänzlich.
  • Polyphenole: Die Süßkartoffel ist reich an diversen Polyphenolen, die (als Gruppe von Phytochemika) teils nachweislich positive Wirkungen für unsere Gesundheit haben können, aber auch solchen, die nachweislich antinutritive Wirkung entfalten. So z.B. solche, die - ähnlich der Oxalate und der Phytinsäure - die Eisen und Zink binden und unverwertbar machen sowie die lebensnotwenige Aktivität bestimmter Enzyme in unserem Stoffwechsel unterbinden.
  • Phytinsäure: Der alte Bekannte aus den Getreiden und Nüssen. Läßt sich durch Erhitzen reduzieren, aber nicht auf Null drücken. Die bei Getreiden und Nüssen praktikablen Methoden des Wässern und Keimens bewirken im Fall der Süßkartoffel so gut wie keinen Effekt. Phytinsäure bindet Mikronährstoffe zu Chelatkomplexen und wir scheiden sie über den Stuhl unverrichteter Dinge aus.

Toxine (Giftstoffe):
Wird die Haut der Süßkartoffel durch mechanische Reize verletzt oder wird sie von Pilzen befallen, produziert die Knolle zu ihrem Schutz Toxine. Insbesondere Phytoalexine, die auch dem Menschen gefährlich werden können. Daher sollte man beschädigte und/oder schimmelige Knollen besser gar nicht verzehren. Falls doch: Kleinere Stellen mit Schimmelbefall sollten tief ausgeschnitten werden (3mm bis 1cm wird geraten). Kochen reduziert den Toxingehalt lediglich um 40%.

Allergene:
Ein überschaubares Problem, aber es sind in der Literatur einige wenige Fälle von allergischen Reaktionen (Nesselsucht (Urtikaria), Bewußtlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen) infolge des Konsums von Süßkartoffeln dokumentiert.

Sonstiges:
Raffinose - ein Zucker, den wir ähnlich nicht zerlegen können, weil uns ein Enzym fehlt, wie dies bei laktoseintoleranten Menschen mit dem Milchzucher der Fall ist. Zählt also als Ballaststoff und wir füttern damit unsere Mikrobiota im Darm an. Mit noch unbekannten systemischen Folgen - mit Ausnahme nachgewiesen ausgeprägter Flatulenz. Je süßer die Süßkartoffel, desto ausgeprägter die akustische und olfaktorische Belästigung der Umwelt.

(-Exkurs: 
Obwohl es ja auch Leute gibt, die an derartigen "akustischen Phänomenen" ihre Freude haben und virtuose Kunstfurzer ihr Publikum beizeiten zu Freudentränen hinzureissen vermochten. Ob sich wohl die Künstler mit Süßkartoffeln dopten? Man weiß es nicht. 
Der Kabarettist Sebastian Pufpaff jedenfalls, begeisterte sein Publikum mit dem Hinweis, der Mensch - die selbsternannte "Krone der Schöpfung", wie er hinzufügte - sei das einzige Lebewesen, das unter seine Bettdecke furze. - *LACHER* - Und dann auch noch vorsätzlich daran riechen würde. *GELÄCHTER. 
-Exkurs Ende)

Welche Nebenprodukte die Mikrobiota liefert, die von Raffinose lebt und die unserem Stoffwechsel helfen oder schaden können, ist wie gesagt, noch offen. Im Fall der Laktose weiß man, dass es für rund 70-80 Prozent der Menschheit nach dem Abstillen ein Problem ist und auch deswegen verzichtet man im Rahmen des Paleo-Konzeptes auf den Konsum von laktosehaltigen Milchprodukten.

Halten wir summarisch fest: Die Süßkartoffel steht der Kartoffel im Grunde hinsichtlich fehlender Paleokonformität  in nichts nach:
  • Sie roh zu verzehren ist aufgrund der Oxalate, Polyphenole und der Phytinsäure sowie ggfls. enthaltener Toxine keinesfalls ratsam. Auch wenn man es landauf , landab lesen kann, dass das unproblematisch sei: Es handelt sich nach Faktenlage trotzdem um dummen Blödsinn, den Ihr bitte konsequent bleiben lasst. Klar, die Dosis macht das Gift und wenn man alle paar Monate mal eine handvoll Süßkartoffelrohkost isst, wird man wohl kaum daran sterben. Wie sich das allerdings bei kleinen Kindern verhält, darüber wage ich nicht zu spekulieren und verantwortungsbewußte Väter und Mütter werden ihre Schlüsse daraus ziehen (hoffe ich).
  • Ansonsten führt kein Weg an der Anwendung der auch bei Kartoffeln angezeigten Denaturierungstechnologien vorbei, wobei auch hier keine gänzliche Beseitigung der problematischen Stoffe, sondern lediglich eine mehr oder weniger erfolgreiche Reduktion einiger, aber keineswegs aller dieser Stoffe möglich ist. Regelmäßiger Konsum im Sinne eines Grundnahrungsmittels führt also zu einer chronischen ernährungstechnischen Selbstsabotage durch Chelatkomplexe und die dadurch reduzierte Verfügbarkeit von Mikronährstoffen, die Hemmung der Proteinverdauung und u.U. Zufuhr von toxischen Substanzen. 
  • Eine richtig verstandene Paleo-Ernährung des 21. Jahrhunderts versucht den Mikronährstoffgehalt pro Kilokalorie zu maximieren und gleichzeitig die Zufuhr von Antinutrients und Toxinen zu minimieren. Die Süßkartoffel sabotiert diese Bemühungen und ist zudem - vergleichsweise zu einer Roten Beete etwa -  wesentlich energiedichter, was die Bilanz relativ zu anderen Wurzelgemüsen verschlechtert. Konsumiert man zudem oxalathaltige Gemüse wie Spinat, Mangold und Rote Beete und regelmäßig eben auch Süßkartoffeln, so kumuliert sich auch die Gesamtmenge an Oxalaten. Man rückt den kritischen Schwellen dadurch nur unnötig näher. Ein gesunder Körper kann mit bestimmten Mengen an bestimmten Antinutrients und Toxinen durchaus umgehen, aber nicht mit jeder Menge. Daher ist es auch besser, sehr, sehr abwechslungsreich zu essen, speziell, was pflanzliche Kost angeht und die nährstoffdichten Pflanzen, den weniger nährstoffdichten, die gleichzeitg sehr energiedicht sind, vorzuziehen. Das kann saisonal bedingt durchaus schwierig sein.

Wie ihr wisst, bin ich ein großer Freund der schlichten, aber enorm hilfreichen Basisregel für den Zweifelsfall von Ray Audette ("Neanderthin, 1999, S. 61):
"When in doubt about any food, apply the basic principle of Paleolithic nutrition: Would this be edible when found in its natural state and without technology? If the food in question passes this test, it may be eaten without fear."

Nach allem, was ich für Euch hier zusammengetragen habe, kann die Antwort nur lauten:

Süßkartoffeln? Never-Ever-Paleo!

Kaum ein Paleo-Kochbuch, das nicht strotzt vor Süßkartoffelrezepten. Im Grunde alle für die Tonne, wenn sich jemand wirklich paleokonform ernähren will. Wer der Meinung ist André Rieu und Rondo Veneziano würden Klassische Musik spielen, Brian Johnson wäre der bessere Sänger als Bon Scott es war und aus der Dornfelder- oder der Trollingertraube würde tatsächlich ein Rotwein gekeltert, dem wird das Süßkartoffel- und andere Probleme der Steinzeiternährung wahrscheinlich ebenfalls reichlich wurscht sein. Soll er/sie seine Ernährung nennen, wie er/sie mag, aber bitte nicht paleo.

Ich versprech's Euch, da werde ich auch künftig richtig lästig, wenn ich in den Publikationen der Szene Etikettenschwindeleien wahrnehme.... .

(Re-Publish von April 2014)