Zeitgenossen, die der Steinzeiternährung und Evolutionsmedizin gegenüber skeptisch bis ablehnend gegenüber stehen, bringen als Argument gerne an, dass die Menschen der Steinzeit angeblich lediglich 25 bis 30 Jahre alt wurden. Wer von uns Menschen des 21. Jahrhunderts wolle ernsthaft in so jungen Jahren sterben? Ein Lebensstil, der zu einer so niedrigen Lebenserfahrung führe, könne ja beim besten Willen nicht als gesund bezeichnet werden.
Deutlich intelligentere Skeptiker als diejenigen, die solche Thesen verbreiten, argumentieren, dass der Mensch der Altsteinzeit schlicht und einfach nicht alt genug wurde, um die typischen Symptome der Krankheiten, die wir „Zivilisationskrankheiten“ nennen, auszubilden. Dass es keine Folge eines inadäquaten Lebenstils sei, wenn man diese Krankheiten bekäme, sondern unabhängig davon lediglich eine Frage des Älterwerdens. Ein Schicksal also, das mit hoher Wahrscheinlichkeit auch unsere Urahnen ereilt hätte, wenn sie nur alt genug geworden wären.
Was ist nun dran an diesen Einwänden? Wie alt wurden unsere Ahnen der Steinzeit wirklich? Gibt es harte Anhaltspunkte für die These, dass auch unsere Urahnen trotz signifikant anderen Lebensstils (bedeutend mehr körperliche Aktivität, andere Ernährung) auch an „unseren“ Zivilisationskrankheiten erkrankten? Und: Sind wir auf dem Holzweg, wenn wir unseren Lebensstil an dem unserer Ahnen aus dem Paläolithikum anzulehnen versuchen? Wenn wir der „Discordance Hypothese“ von S. Boyd Eaton und Melvin Konner folgen, die die Ursache der meisten, als lebenstilbedingt vermuteten Probleme unserer Zeit, im Auseinanderklaffen unseres genetisch verankerten evolutorischen Erbes und unserem Lebenstil verorten?
von Robert Bock
von Robert Bock
Zunächst einmal ist zu klären, wie alt denn nun der Mensch der Steinzeit, gemessen an den Erkenntnissen der Paläoanthropologie tatsächlich wurde. Das erste Fettnäpfchen für pseudointellektuelle Zeitgenossen, stellt hier schon einmal die üblicherweise von Bevölkerungsstatistikern verwendete Größe „Lebenserwartung bei Geburt in Jahren“ dar. Diese weist für den Homo Sapiens der Altsteinzeit eine Lebenserwartung von 33 Jahren aus. (vgl. dazu Hillard Kaplan, Kim Hill, Jane Lancaster, and A. Magdalena Hurtado (2000). "A Theory of Human Life History Evolution: Diet, Intelligence and Longevity". Evolutionary Anthropology 9 (4): 156–185; Caspari, Rachel & Lee, Sang-Hee (July 27, 2004). "Older age becomes common late in human evolution". Proceedings of the National Academy of Sciences 101 (20): 10895–10900).
Auf den ersten Blick sieht das nun wirklich nicht nach viel aus, wenn man diese Lebenserwartung bei Geburt in Jahren mit der aktuellen Zahl für die Bundesrepublik, die bei über 78 Jahren liegt vergleicht. Was man dabei aber völlig fehleinschätzt, ist die primäre Ursache einer hohen oder niedrigen Ausprägung dieser Kennzahl: Die Kinder- und Säuglingssterblichkeit.
Die amtliche Statistik weist für die Bundesrepublik für das Jahr eine Säuglingssterblichkeit von 4,2 bezogen auf 1000 Neugeborene aus (weltweit: 52). Von der römischen Antike bis ins 19. Jahrhundert hinein lag die Säuglingssterblichkeit (mit Daten untermauert) bei 300 bis 500. Im England des 16. Jahrhunderts starben gar 2/3 der Kinder (also 667 pro 1000) vor Erreichen des vierten Lebensjahres (vgl. W. J. Rorabaugh, Donald T. Critchlow, Paula C. Baker (2004). "America's promise: a concise history of the United States". Rowman & Littlefield. S.47)
Das bedeutet, dass in den Zeiten vor den Fortschritten in Medizin und Hygiene von 10 geborenen Kindern 3 bis 6,67 bereits im Säuglingsalter verstarben, während heute (in der Bundesrepublik) nur noch 0,042 von 10 Neugeborenen nicht über das Säuglingsalter hinaus kommen.
Wie wirkt sich die Säuglingssterblichkeit nun aber auf die Kennzahl „Lebenserwartung bei Geburt in Jahren aus“?
Ein einfaches Rechenbeispiel: Angenommen wir gingen davon aus, dass ein Mensch, der das Säuglingsalter überlebt und auch ansonsten nicht vom Pech verfolgt wird, potenziell 80 Jahre alt werden wird. Würden wir heute ein Krankenhaus besuchen und uns dort mit den stolzen Eltern über zehn neue Erdenbürger freuen, und überleben alle zehn ihr Säuglingsalter, so beträgt die statistische Lebenserwartung bei Geburt in Jahren in dieser Population (d.h. dieser zehn Kinder) 80 Jahre. Verstirbt einer der Säuglinge im ersten Lebensjahr, so beträgt diese nur noch 72 Jahre ((80*9 + 1*0)/10). Würden - so wie bis vor rund 150 Jahren bitterer Realität - die Hälfte der Neugeborenen früh versterben, so reduziert sich die statistische Lebenserwartung bei Geburt in Jahren auf nur noch 40 Jahre ((80*5+0*5)/10).
Interpretiert man also die Kennzahl „Lebenserwartung bei Geburt in Jahren“ so, wie dies leider viele tun, nämlich, dass ein Mensch mit 40 Jahren das zeitliche segnet, dann ist dies natürlich völliger Blödsinn und zeigt lediglich, dass jemand von Statistik in etwa so viel Ahnung hat, wie ein Hausschwein vom Klavierspielen.
Nach Konsens der wissenschaftlichen Faktenlage beträgt also die „Lebenserwartung bei Geburt in Jahren“ für die altsteinzeitlichen Jäger und Sammler 33 Jahre. Von einer damals weit höheren Säuglingssterblichkeit als der unseren heutiger Tage ist vernünftigerweise auszugehen. Wenn wir annehmen, dass sich diese im Bereich dessen, was wir seit der römischen Antike bis zum 19 Jahrhundert an Daten haben, also zwischen 300-500 pro 1000 bewegt hat, so resultiert daraus eine Spanne für das statistisch erreichbare Lebensalter von 47 bis 66 Jahren in der Altsteinzeit. Das relativiert dann doch schon mal viele der Nonsensaussagen, die publiziert werden. In der Tat berechnen wissenschaftliche Studien die durchschnittliche (!) Lebenserwartung eines altsteinzeitlichen Jägers und Sammlers, der das 15. Lebensjahr überschritten hatte, mit 54 Jahren. Auf Basis de Analyse fossilierter Knochen verortet Helmut (Helmut, H.: The maximum lifespan potential of Hominidae: a re-evaluation. Homo, 50, 283-296. 1999) die Lebenserwartung (Maximum Lifespan) des Homo Sapiens der Altsteinzeit gar auf 82-86 Jahre.
Heute lebende Jäger und Sammler erreichen auch ohne jegliche schulmedizinische Untersützung unter harten Lebensbedingungen ein Lebensalter von 60-70 Jahren (Goscienski, P.J. (2005). Health secrets of the stone age: what we can learn from deep in prehistory to become leaner, livelier and longer-lived, (2nd edition). Oceanside: Better Life.)
Im Übergang zur Jungsteinzeit, also mit der Neolithischen Revolution, sank die Lebenserwartung bei Geburt in Jahren übrigens auf 20 Jahre ab. Von 33 Jahren auf 20 Jahren. Jäger und Sammler 33 Jahre - Ackerbauern und Viehzüchter 20 Jahre. Das muss man erst einmal auf sich wirken lassen... .
Noch im frühen 20. Jahrhundert war diese Lebenserwartung bei Geburt, die die Altsteinzeitler aufweisen konnten, nicht erreicht: Sie betrug 31 Jahre. Erst danach begann der steile Anstieg der Ausprägung dieser Kennzahl. durch eine mehr und mehr erfolgreiche Eindämmung der Säuglingssterblichkeit bis in unsere Tage (vgl. dazu Wikipedia und die dort angegebenen Quellen)
Wie problematisch die Interpretation eines Durchschnittswertes ist, wenn man keine Informationen über Streuungsmaße hat, das sieht man auch in unseren Tagen: Im Durchschnitt haben wir 78 Jahre zu erwarten, aber die einen sterben mit 25 bei einem Motorradunfall, fallen mit 35 vom Baugerüst oder sterben mit Anfang 50 an Krebs oder Herzinfarkt – die anderen werden 90 Jahre und noch älter. Ein Durchschnittswert hat also stets nur begrenzte Aussagekraft für das tatsächlich zu erreichende maximale Lebensalter einer Epoche der Menschheitsgeschichte.
Zwischenergebnis: Unsere Ahnen der Altsteinzeit hatten eine deutlich höhere Lebenserwartung, als dies in den meisten Publikationen mit angeblich ca. 25 Jahren behauptet wird. Sofern das fortpflanzungsfähige Alter erreicht wurde, durften unsere Vorfahren mit einem durchschnittlich zu erwartendemn Lebensalter von 54 Jahren rechnen.
Alt genug in jedem Fall, selbst gemessen am Durchschnitt, um die typischen Spuren von Zivilisationskrankheiten (z.B. Anzeichen von Osteoporose, Wirbelsäulendegeneration oder Karies) auszubilden. Jedoch finden sich zumindest an den erhaltenen Überresten dieser Menschen kaum nennenswerte Spuren dieser Krankheiten. Somit muss man auch die These, dass unsere Ahnen nur nicht alt genug wurden, um Zivilisationskrankheiten auszubilden, als fraglich betrachten: Sie wurden alt genug, bildeten aber keine nachweisbaren Symptome aus. Es ist also wahrscheinlicher anzunehmen, dass die sich seuchenhaft ausbreitenden Zivilisationskrankheiten unserer Tage nicht einfach nur unvermeidbare Folge des Alterns sind, sondern Folge eines nicht artgerechten Lebensstils, als die Annahme des Gegenteils zu favorisieren.
Hinzu kommen als Nebenaspekt die erheblichen Probleme der Abschätzung des Sterbealters eines Altsteinzeitlers, dessen Skelett man untersucht. Sobald der Mensch ausgewachsen ist, fehlen die meisten untrüglichen Hinweise auf sein Alter (z.B. noch nicht durchgebrochene Weisheitszähne im Kieferknochen), um eindeutige Aussagen machen zu können.
Üblich ist es, den Zustand des Skeletts, was Abnutzungserscheinungen angeht, mit den Skeletten moderner Menschen und deren verbrieftem erreichten Lebensalter zu vergleichen. Wenn man nun aber als Arbeitshypothese annimmt, dass der moderne Mensch durch seinen nicht artgerechten Lebensstil solche degenerativen Symptome früher entwickelt, als dies beim Altsteinzeitler der Fall gewesen ist, dann unterschätzt man das Sterbealter des Menschen des Paläolithikums, dessen Skelett man begutachtet durch diese Praxis der Datierung systematisch.
Ein Indiz für diese methodischen Schwachpunkt der Datierung liefert die Untersuchung der Knochengesundheit noch heute lebender Jäger und Sammler, die sich selbst im hohen Alter in einem Zustand befindet, die der eines an Jahren wesentlichen jüngeren gesunden Menschen in den Industrienationen ähnelt.
Diese Aspekte würdigend, kann man, so meine ich, mit einem hohen Maß an Berechtigung die Hypothese aufstellen, dass unsere altsteinzeitlichen Ahnen im Mittel sogar deutlich älter wurden als 54 Jahre. Und, wenn sie mit etwas Glück und Verstand, von den damals üblichen Haupttodesursachen (Verletzungen, Infektionen, Opfer von Raubtieren) verschont geblieben sind, sogar ebenso alt geworden sind wie wir heute im Mittel. Nur eben mit dem - für mich wesentlichen - Unterschied, dass sie einen deutlich besseren Gesundheitszustand auch im hohen Alter geniessen konnten, als wir dies heute können, ähnelt doch das Altwerden heute eher einem zähen und schier endlosen Siechtum, wenn man die Lebensqualität von pflegebedürftigen Menschen objektiv würdigt.
Detlev Ganten, Evolutionsmediziner und einer der bedeutensten medizinischen Forscher Deutschlands, hat es in einem Interview mit dem SWR auf die Frage „Spricht denn die geringe Lebenserwartung der Steinzeitmenschen nicht gegen die Theorie vom gesunden Steinzeit-Leben?“ sehr treffend als Antwort formuliert:
„Es klingt vielleicht etwas paradox, aber man könnte sagen: Die Vorteile des Steinzeitlebens können erst heute richtig zum Tragen kommen - in einer Zeit, die uns dank Hygiene, Lebensmittelsicherheit, moderner Medizin (und auch weit friedlicherem Umgang miteinander als früher) ermöglicht, dass wir so alt werden können, dass diese Vorteile uns vor den Krankheiten des Alters schützen können. Wer mit 25 von Leoparden oder Parasiten aufgefressen wird, dem nützt es nichts, wenn sein Herz bis ins hohe Alter durchhalten würde.“
Niemand von uns will ein Pflegefall werden. Jeder von uns möchte alt werden aber dabei geistig und körperlich fit bleiben, so gut das möglich ist. Leben wir den evolutorisch gewachsenen und genetisch verankerten Erfordernissen entsprechend, emulieren wir also den Paleo-Lifestyle unter den Vorzeichen des 21. Jahrhunderts, so haben wir deutlich besser Chancen gesund ein hohes Alter geniessen zu können, als wenn wir so leben, wie dies die Masse tut. Unsere Gene sind in diesem Streben nicht unsere Gegner, sondern unsere Verbündeten. Unser wahrer Feind ist der Lebenstil der westlichen Welt.
Re-Post vom 27.09.2013
Re-Post vom 27.09.2013