... oder kann er alleine über die Gluconeogenese theoretisch gesund alt werden, ohne je ein Gramm Kohlenhydrat konsumiert zu haben?
Das ist freilich ein Fall akademischen Wolken- und Girlandenschwingens, denn schon mit der Muttermilch bekommen wir reichlich Kohlenhydrate in Form von Laktose auf unseren Lebensweg, aber um diese m.E. durchaus interessante Frage, dreht sich neulich in einem LCHF-Forum eine Diskussion. Ein Mitdiskutant vertrat dort die Ansicht, dass man keinerlei Kohlenhydrate zuführen müsse. Sein Fazit:
"Niemand hat ne auch nur annähernde Vorstellung davon, wie viel Glukose der gesunde menschliche Organismus am Tag wirklich umsetzt. Für die Vorstellung, dass wir für diesen Umsatz auch nur 1 Gramm von außen zuführen müssten, sehe ich absolut keinen Grund."
D.h., wenn ihr mir diese Interpretation erlaubt, alles, was der Körper an Glucose brauche, könne er über Gluconeogenese herstellen. Sei es aus Körpersubstanz im Fall der Hungerns oder über eine ausschließlich fett- und proteinhaltige Nahrung.
Wie wahrscheinlich ist es, dass dem tatsächlich so ist?
von Robert Bock
Den zitierten Standpunkt kann man selbstverständlich vertreten, aber was wohl unbestritten ist, ist dass es physiologische Strukturen in unserem Körper gibt, die zwingend auf Glucose angewiesen sind und weder mit freien Fettsäuren noch Ketonkörpern arbeiten können.
So braucht unser Gehirn selbst bei perfekter Ketoadaption ein Mindestmaß von 20-50% (je nach Quelle der Literatur) ihres Energiebedarfs aus Glucose und auch die Erythrozyten und das Nierenmark brauchen unbedingt Glucose, um einwandfrei zu funktionieren.
Darüber hinaus baut der Körper sogar Glucose als Strukturbaustoff in den Körper ein - und dabei meine ich weniger Muskel- und Leberglykogen, sondern Glykoproteine und Glykolipide, die z.B. für eine gesunde Darm- und Magenschleimhaut oder die Gelenkschmiere gebraucht werden. Alleine was die Glykoproteine angeht, muß man von einem täglichen Bedarf von um die 50 g ausgehen, damit genügend Mucus produziert werden kann.
Die Gretchenfrage ist nun ob man nun tatsächlich (welche Menge auch immer) von außen zuführen muß. M.a.W. hat die Fähigkeit unseres Stoffwechsels,sämtliche benötigte Glucose über die Gluconeogenese selbst herzustellen, für jeden Menschen eine ausreichende Kapazität, um theoretisch lebenslang und bei allerbester Gesundheit, nicht nur zu überleben, sondern gesund alt werden zu können?
Diese Frage ist wissenschaftlich seriös leider nicht geklärt. Langfristig angelegte Interventionsstudien unter kontrollierten Bedingungen existieren nicht (und werden dies wohl auch nie, denn welcher Proband würde sich auf ein jahrzehntelang dauerndes, streng kontrolliertes Ernährungsexperiment einlassen wollen?) und die Aussagen aus klinischen Studien mit einer Dauer weniger Wochen erlauben keine Verallgemeinerungen auf den langen Zeitachsen. Eine kohlenhydratfreie Ernährung existiert in der Realität nicht. Wir bewegen uns also auf Basis der reinen Theorie auf Basis unseres Verständnisses um die Zusammenhänge der Biochemie, die wir wohl auch noch nicht vollumfänglich erfasst und verstanden haben.
Evolutionsbiologisch (und in der Biologie ist nichts sinnvoll, es sei denn man betrachtet es im Licht der Evolution) gab es für den Homo sapiens keinerlei Anlaß einen Hybridantrieb zu schaffen, der gänzlich ohne Kohlenhydrate auskommen mußte. Man sollte nicht vergessen, dass der Mensch in Afrika evolvierte und selbst die Inuit in der Arktis Kohlenhydrate zu sich nehmen - und sei es der von ihnen geschätzte begehrte halbverdaute Magen- und Darminhalt der erjagten Tiere. By the way: Nichts gegen die Kultur der Inuit, aber da esse ich doch lieber einen schönen großen Salat als Beilage zu meinem Steak ;) .
Da sich eine etwaige genetische Mutation im kompletten Genom einer Art aber nur dann durchsetzen kann, wenn sie einen glasklaren Selektionsvorteil, gemessen an den Umweltbedingungen der Art bringt, ist es von dieser Sicht her extrem fraglich, warum ausgerechnet eine Mutation sich hätte durchsetzen sollen/können, die bei tagtäglicher Verfügbarkeit von Kohlenhydraten, ein dauerhaft gesundes Leben ohne jegliche Kohlenhydratzufuhr ermöglichte.
Da klingt es für mich plausibler, dass wir ein gewisses Mindestmaß an KH zuführen müssen, um dauerhaft gesund zu bleiben. Die Frage ist eben nur, wie groß diese Menge (individuell) ist.
Ich bezweifle aus dem Ausgeführten zu den, in der Körperstruktur benötigten Glykoproteinen und Glykolipiden, dass diese Menge Null sein kann, da die Gluconeogenese solch große Mengen an Protein zwar bereitstellen, aber die Ausscheidung ihrer toxischen Begleitstoffe auf Dauer nur unzureichend managen kann (z.B. Belastung von Leber und Nieren, Übersäuerung des Bindegewebes u.w.m.).
Dass Fett als Lieferant von Glucose zwar eine Rolle spielt, aber einen lausigen Wirkungsgrad hat, ist bekannt: 10% des Fettes (der Glyzerinanteil der Triglyzeride) wird in Glucose verwandelt. Um 50g KH für die Produktion von Mucus alleine über Fett bereitzustellen, müsste man Tag für Tag also 500g Fett futtern. Das sind 4500 kcal - mehr muß ich nicht dazu sagen. Proteine werden zu 58% in Glucose umgewandelt - und zwar lediglich die glucogenen Aminosäuren darin. Mit dem Abbau der toxischen Bestandteile des Proteinabbaus, hat unser Körper aber zu kämpfen: 86 zusätzliche Gramm Proteine bedeuten für viele Menschen eine glatte Verdopplung des gängigen Tagesbedarfes an Proteinen. Kann es das sein?
Abgesehen davon: Fett ist in der Natur eher rar, da Wildtiere in Afrika, andres in arktischen Breiten, einen extrem niedrigen, jahreszeitlich schwankenden Körperfettanteil haben und sich nennenswerte Mengen nur in den Organen finden. Es widerspräche der historischen Realität der Lebensumstände nach allem, was wir über unsere Vorfahren wissen, dass dies eine praktische Option gewesen wäre. So viele Tiere hätte man i.d.R. gar nicht erlegen können, um eine Population mit Fett zu versorgen, hätte man sich kohlenhydratfrei ernähren wollen.
Die Argumentationslinien mit dem Hungerstoffwechsel (keinerlei energiereiche Nahrung), der bewiese, dass der Mensch keine extern zugeführten Kohlenhydrate benötigte, die ja auch recht beliebt ist, hat einen entscheidenden Haken: Am Ende des Hungerns steht das Verhungern und wir lernen im Grunde nur, dass wir von der Natur einen Zeitpuffer erhalten haben, um Nahrung aufzutreiben, der wohl gelegentlich auch schon sehr vorteilhaft war in unserer Geschichte, der aber nichts über eine langfristig gesunde Ernährung aussagt.
Erwähnt sei noch der Aspekt der Mikronährstoffe, diejenigen, die sich vor allem oder ausschließlich in Pflanzen finden, auf deren Vorhandensein wir nach Stand des Wissens angewiesen sind.
Zu behaupten, dass man keinerlei (nolens volens KH-haltige) Pflanzennahrung zu sich nehmen müsse, ist mindestens so blödsinnig wie die Behauptung der Veganer, der Mensch bräuchte keine Lebensmittel aus tierischen Quellen. Hat der Mitdiskutant natürlich so nicht behauptet, aber seine Aussage, dass man keinerlei KH zuführen müsse, impliziert dies indirekt in praxi.
Unter Strich bleibt, dass die Evolution uns zu Omnivoren gemacht hat, d.h. aber nicht, dass wir uns eine Lebensmittelkategorie ode rein konkretes Lebensmittel - sei es tierisch, sei es pflanzlich, was auch immer - rauspicken könnten und auf die anderen können wir verzichten. Wir brauchen eben genau den Mix aus einer möglichst breiten Palette pflanzlicher und tierischer Lebensmittel, um gesund zu bleiben.
Das müssen m.E. vor allem die Veganer verstehen lernen, die sich in ihrer ideologischen Verblendung leider meilenweit von der Realität der Natur des Menschen entfernt haben und ihn für ein Kunstwesen halten. Bleibt in ihrem Interesse zu hoffen, dass am Ende die Vernunft siegt und sie wieder in die harte Wirklichkeit naturgesetzlicher und evolutionsbiologischer Zusammenhänge zurückfinden. Sobald das geschieht, hat sich diese Schrulle wohl von selbst erledigt.