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Freitag, 22. Juni 2018

Low-Carb-Mythen (4): Das Eskimo-Märchen

Foto: pixabay
Jeder, der die Standardliteratur der Low-Carb-High-Fat (LCHF)- und Atkins-Szene gelesen hat, kennt sie, die Legende vom vor Gesundheit nur so strotzenden, weil in Dauerketose lebenden Inuit (Eskimo).
Die Bedenken, die von verschiedenen Seiten geäußert werden, ob denn ein Leben in ununterbrochener, "chronischer" Ketose, die letztlich nur über eine recht karge Zufuhr an pflanzlicher Nahrung zu bewerkstelligen ist, über lange Zeiträume gesund sein kann, wird mangels valider, reliabler und unter kontrollierten Bedingungen entstandenen Langzeitstudien von den Promotoren ketogener Diäten mit dem Hinweis auf das Volk der Inuit und ihre gute Gesundheit beantwortet. Die Inuit würden mehr oder weniger ganzjährig ketogen leben, die Inuit wären pumperlg'sund, wie wir Bayern sagen, ergo ist chronische Ketose der Schlüssel zur Gesundheit. Soweit die übliche Argumentationskette.


Doch stimmt das überhaupt? War denn die Nahrung der Inuit tatsächlich geeignet, in dauerhaft stabiler, sogenannter chronischer Ketosis zu leben?

Ich schreibe "war": Leider gibt es heute so gut wie keine Angehörigen dieser Volksgruppe mehr, die noch den traditionellen Lebenstil der arktischen Jäger und Sammler pflegen. Man kann sie also nicht mehr durch die Mangel diverser Messungen drehen, um Zweifelsfragen zu klären. Die Masse der Inuit ist heute seßhaft und ernährt sich von einer Western Standard Diet, was ihnen freilich - wie uns auch - ziemlich schlecht bekommt.

Die Low-Carb-Szene hat im Grunde nur einen Zeugen ihrer Thesen: Einen mehr oder weniger erfolglosen Erforscher der Arktis namens Vilhjálmur Stefansson (1879-1962).
von Robert Bock
Stefansson, Kanadier mit isländischen Wurzeln, der nach einer ziemlich lausig geplanten Expedition mit seinen Leuten und einer Riesenportion Glück bei den Inuit den Winter überlebte und sich bei deren traditioneller Kost, die zu 90% aus rohem Fleisch und Fisch bestand, tadelloser Gesundheit erfreute, verfasste ein Buch über diese Erfahrungen und lenkte so das Augenmerk der zivilisierten Welt auf diese extremen Ernährungsgewohnheiten der Inuit. Die damalige Expertenschaft hielt seinen Bericht für ein Märchen und stellten in Frage, dass jemand mit einer Diät, die so gut wie ausschließlich aus Fleisch bestünde, sich einer tadelosen Gesundheit erfreuen könne.

Vom Verband der US-Fleischwirtschaft vor den PR-Karren gespannt, zogen Stefansson und einer seiner Kumpel, ein vom wichtigsten US-Ärzteverband kontrolliertes Experiment durch und sie ernährten sich, ohne nennenswerte Beeinträchtigung ihrer Gesundheit, ein Jahr lang von nichts anderem, als von Fleisch und Fisch. Allerdings nicht roh, sondern gekocht, nach westlichen Gewohnheiten geschlachtet, zubereitet und verzehrt. Das mag vielleicht als ein unwichtiges Detail erscheinen - wie sich zeigen wird, es ist es möglicherweise nicht.

Eine Legende war geboren - Robert Atkins und andere Epigonen ketogener Reduktionsdiäten, griffen dankbar und immer wieder gerne auf diese "wissenschaftliche Studie" auf Basis einer fadenscheinigen Emulation einer Inuit-Diät zurück und kaum ein LCHF-Buch unserer Tage, in denen mangels anderer seriöser Quellen über die Ernährung der Inuit, nicht auf die Stefansson-Legende verwiesen wird.

Doch halt! - Gibt es wirklich keine anderen, vielleicht sogar zuverlässigere Quellen über Ernährung, Makronährstoffbalance und den Stoffwechsel der Inuit, als Stefansson's Abenteuerbericht?

Ein paar - wie ich - zum Skeptizismus neigende Blogger aus der amerikanischen Paleo-Szene, haben sich eine Menge Arbeit gemacht und sind tief in die Annalen der Inuit-Forschung eingetaucht und haben doch tatsächlich unter dicken Schichten von Staub, drei Studien in den Archiven gefunden, die sich explizit und sauber gemessen, mit der Ernährung der traditionell lebenden Inuit und deren Stoffwechselparametern beschäftigt haben.

Eine Studie aus dem Jahre 1928, eine von 1936 und eine von 1972. Die einbezogenen Populationen lebten und ernährten sich damals allesamt weitestgehend traditionell (1972 taten sie allerdings schon Zucker in den Tee oder Kaffee.... arktischer Kaffee??) und was die jeweiligen Wissenschaftler an Erkenntnis gewannen, enttarnt die angebliche Dauerketose der Inuit als einen weiteren Low-Carb-Mythos:  

Die Inuit wiesen keine erhöhte Ketonkörperkonzentration im Blut auf und waren außerordentlich glucosetolerant. Von Ketose konnte im Grunde gar keine Rede sein, denn die konsumierten Mengen an Kohlenhydraten und Proteinen waren so hoch, dass sich gar keine Dauerketose einstellen konnte.


Lassen wir doch diese Studien - zunächst die älteste - sprechen:

STUDIES ON THE METABOLISM OF ESKIMOS. Peter Heinbecker. Departments of Biological Chemistry and Physiology, Washington University School of Medicine, St. Louis. July 9, 1928.
"The main objects of the experiments were to learn whether detectable ketosis exists among Eskimos under natural dietary conditions; the extent to which ketosis develops in fasting and the rate at which it disappears on glucose ingestion; the “carbohydrate tolerance” as indicated by blood sugar curves; and to determine the respiratory metabolism during and after a ketosis-producing fast. [...]
It may be said at once that the Eskimo on his usual dietary shows no ketosis and has high tolerance to ingested glucose. [...]
Eskimos show a remarkable power to oxidize fats completely, as evidenced by the small amount of acetone bodies excreted in the urine in fasting. "

Die Ursachen für die nichtexistente Ketose nennen die Autoren der Studie ebenfalls: Tägliche Aufnahme im Durchschnitt von 54g KH, 280g Proteine, 135g Fett. Die aufgenommenen Mengen an KH stammten überwiegend aus dem Glykogen von Haut (die Haut von Meeressäugern ist enorm glykogenhaltig), Muskulatur und Organen roh, kurz nach der Tötung verzehrter Tiere bzw. dem tiefgefrorenen Fleisch dieser Tiere. Durch unmittebares natürliches Schockfrosten nach der Tötung, bleibt nämlich das Muskel- und Leberglykogen im Tier weitgehend erhalten, während es bei "normalen Temperaturen" unserer Breiten binnen weniger Minuten nahezu abgebaut ist. Unser Fleisch ist also mit dem Fleisch, das die Inuit konsumierten, vom Glykogengehalt her nicht ansatzweise vergleichbar. 

Die Mengen von 54 Gramm Kohlenhydraten meiden die meisten LCHF-Fans wie der Teufel das Weihwasser, mutmaßen sie doch, dass sie bei derartigen "KH-Exzessen" nie und nimmer abnehmen oder gesund leben können. 280g Proteine verhindern zuverlässig eine stabile dauerhafte Ketose, denn 58% dieser Menge, werden in Glucose verwandelt, zusätzlich 10% des Fetts und so resultiert aus diesen Nährstoffmengen bei ca. 2500 kcal/d ein Potenzial von 230g Glucose am Tag. Bei 230g Glucose kann man aber beim besten Willen keine stabile, tiefe Ketose erwarten.

Auch die 1936er-Studie konnte keine Ketose bei den Inuit feststellen und erklärte dies analog:

A STUDY OF THE BLOOD LIPOIDS AND BLOOD PROTEIN IN CANADIAN EASTERN ARCTIC ESKIMOS. Arthur Curtis Corcoran and Israel Mordecai Rabinowitch. Department of Metabolism, The Montreal General Hospital, Montreal. December 13, 1936.

"Also suggestive of an unusual mechanism for the utilization of fat is the absence of ketosis in these natives, whereas the urines of both of Tolstoi's subjects contained acetone. The explanation of this absence of ketosis is not entirely clear. As shown previously [Rabinowitch & Smith, 1936], though the small amount of carbohydrates in the diets may be more than balanced by the potential sugar production from the large amount of protein to keep the ratio of fatty acid to glucose below the generally accepted level of ketogenesis, the respiratory quotient data suggest another mechanism also. That the Eskimo possesses a very active fat metabolism is suggested from some of the data."

Auch 1972 kein wesentlich anderes Ergebnis der Studie an Inuit aus Alaska:


ALASKAN ARCTIC ESKIMO: RESPONSES TO A CUSTOMARY HIGH FAT DIET. Kang-Jey Ho, M.D., Ph.D., Belma Mikkelson, B.S., Lena A. Lewis, Ph.D., Sheldon A. Feldman, M.D., and C. Bruce Taylor, M.D. The American Journal of Clinical Nutrition. August 25, 1972.

"Grain products and simple carbohydrates are virtually absent from the diet, as they must be imported from a great distance at considerable cost.
The marine mammals and the herds of caribou, upon which the Eskimos depend, tend to be migratory, and famines occur occasionally, especially during the long dark winters. In the summertime, their diet is usually plethoric. In general, they have no fixed time for meals and eat as they please, but they usually do have one good meal toward the end of each day. Much of their food is eaten uncooked, partly from preference and especially from necessity, because fuel is scarce. [...]
Average total daily caloric intake was approximately 3,000 kcal per person, ranging from 2,300 to 4,500 kcal. Approximately 50% of the calories were derived from fat and 30 to 35% from protein [260 grams on average]. Carbohydrate accounted for only 15 to 20% of their calories, largely in the form of glycogen from the meat they consumed. Grain products were scarce and although sucrose was not unknown, the average adult ingested less than 3 g/day, primarily for sweetening tea or coffee.(...)Each Eskimo's serum was tested for the presence of ketone bodies by the strip paper technique (18), which is sensitive to concentrations of 1 mg/ 100 ml or greater and all serums were negative. This does not preclude an increase in ketone body production during this time; usually these substances do not attain noxious concentrations until after fasting periods longer than 50 hr."


Diese Makronährstoffverteilungen zugrundegelegt, kann man bei der tatsächlich dokumentierten Ernährung der Inuit keinesfalls von einer Very-Low-Carb-Diet sprechen.

Die übliche Makronährtstoffrelation einer zeitgenössischen LCHF-Ernährung beläuft sich wie folgt:
  •  70-80% Fett
  • 15-20% Protein
  • 5% Kohlenhydrate
 Die Original-Inuit-Diät weist aber diese Relationen auf:

  • 50% Fett
  • 30-35% Protein
  • 15-20% Kohlenhydrate

Noch Fragen zur Thematik? Diese drei Blogbeiträge (1; 2; 3) auf "Free the Animal" liefern Antworten auf so ziemlich alle Details (nebst der referenzierten Literatur und der interessanten Diskussion der Artikel am jeweiligen Ende).


Take-Home:

  • Es gibt nach wie vor keine Evidenz bezüglich der gesundheitlichen Unbedenklichkeit ketogener Diäten auf lange Sicht.
  • Die Inuit können/dürfen als Beleg für eine Lebensweise in chronischer Ketose unter keinen Umständen herangezogen werden, da sie auf Basis der verfügbaren Fakten nicht in chronischer Ketose lebten.
  • Keine anderen indigenen Jäger-und-Sammler-Populationen stehen in Verdacht, sich chronisch ketogen zu ernähren oder ernährt zu haben, womit es aus evolutionsbiologischer Sicht fragwürdig erscheint, Ketosis gegenüber Glykosis als Dauerzustand zu empfehlen.
  • Die LCHF- und Atkins-Theorie mag für kurzfristige (mehrmonatige) Interventionen geeignet und für die meisten Menschen wohl unbedenklich sein, was aber eine chronische ketogene Lebensweise (mehrjährig) angeht fehlt es schlicht und einfach an wissenschaftlich fundierter Erkenntnisbasis. Wer dauerhaft Ketose aufrecht erhält, tut dies also auf eigene Gefahr als Experiment-in-One. Jeder "Experte" fabuliert im Sinne von Mutmaßungen, wenn er hierzu eine Meinung äußert und sollte besser die Klappe halten oder sein Publikum ausdrücklich auf die nicht-existente Langzeitstudienlage hinweisen und die armen Inuit niemals als Zeugen seiner Thesen mißbrauchen.
Der Homo sapiens verfügt m.E. aus gutem Grund einen Hybridantrieb (Glykosis, Ketosis) und sollte wohl auch beide im Wechsel nutzen. Zumindest war und ist dies in Jäger-und-Sammler-Populationen aller geograpischer Regionen so der Fall und Phasen der Überflusses wechseln mit Phasen der Nahrungsmittelknappheit ab, der Körper schaltet zwischen den beiden Stoffwechselmodi hin- und her. In Überflußgesellschaften findet Ketose im Grunde nur noch statt, wenn das Individuum diese willentlich herbeiführt. Die Glykosis als Dauerzustand ("Kohlenhydratmast", hohe Proteinzufuhr) sorgt wahrscheinlich für die ausufernden Wachstumsraten des Metabolischen Syndroms. Warum der eine Zustand (chronische Glykosis) nun aber ungesund sein soll, der andere (chronische Ketosis) hingegen gesund - diese Logik erschließt sich mir zumindest nicht.

Der Mensch ist weder Carnivore (Fleischfresser), noch Herbivore (Pflanzenfresser), er ist Omnivore (Fleisch- und Pflanzenfresser). Dies wird m.E. gerne mißinterpretiert: Die Veganer meinen, der Mensch könne mit einer ausschließlich pflanzlichen Nahrung langfristige gesund (oder gar gesünder) sein, die Fleisch-Fetischisten verweisen auf die Inuit und Stefansson und neigen in Richtung einer ausschließlich auf tierischen Produkten basierenden Ernährung.

Beide liegen falsch:  

Der Mensch braucht - als Folge seiner Evolutionsgeschichte - eine Mischkost aus tierischen und pflanzlichen Grundlagen. 

Einseitigkeit in beiden Richtungen führt zu gesundheitlichen Problemen.

So wie es sich in diesem Punkt verhält - so mutmaße ich jetzt - könnte es auch bezüglich Ketosis und Glykosis sein: Wir brauchen vielleicht den mehr oder weniger regelmäßigen Wechsel zwischen beiden Stoffwechselzuständen, als Grundlage einer guten Gesundheit. Chronische Glykosis ist de facto gefährlich, das weiß man. Was chronische Ketosis angeht, war das einzige Indiz für deren Unbedenklichkeit, das man in Händen zu halten glaubte, die Ernährung der Inuit. Für mich zumindest - ab sofort passé.


Dass sich Dauerketose negativ auf die Situation der Schilddrüsenhormone, auf den Leptinhaushalt und Cortisolspiegel auswirken kann, ist seit Jahren bekannt, wird aber in der Low-Carb-Szene leider (wie so viele andere unangenehmen Fakten, ASP zb, auch...) gerne ignoriert, verschwiegen und möglicherweise auch völlig mißgedeutet, was Ursache und Wirkung angeht.

Viele Übergewichtige gehen zum Arzt und der stellt vielleicht eine Unterfunktion der Schilddrüse fest. Flugs und vielleicht vorschnell, wird gefolgert, die Schilddrüsenunterfunktion sei die Ursache des Übergewichtes, obwohl eine andere Kausalkette vielleicht viel überzeugender ist:

Die meisten Übergewichtigen haben eine regelrechte Diät-Karriere hinter sich und der Jojo-Effekt hat sie trotz ihrer Bemühungen dicker und dicker gemacht. Ob man dies anstrebt oder nicht und egal welche Reduktionsdiät man macht: Ketose ist Teil des Abnehmens. Je länger und/oder öfter jemand diätet, desto gravierender der Einfluß z.B auf Cortisol, Leptin und Schilddrüsenhormone und am Ende ist die  Schilddrüsenunterfunktion die Folge des Diätens und nicht die Ursache der Misere, velleicht sogar die Mutter des Jojo-Effektes infolge eines sich selbst verstärkenden Prozesses und des oft drastisch eingebrochenen Grundumsatzes und der Fehlfunktion der Sättigungs-/Hungersignalgebung. Das ist aber nur eine Hypothese und sprengt das Thema dieses Beitrages - aber ich meine, darüber sollte man nachdenken.

Re-Post vom 16.04.2014