Sonntag, 17. Dezember 2017

Never-Ever-Paleo: Cassava (Maniok)

Dieser Tage erst habe ich Euch meinen Standpunkt zu den beliebten "Nussmehlnachbauten" dargelegt. Heute sehe ich leider erneut Anlaß, Wasser in den Wein zu kippen, denn was dem einen seine Nussmehlnachbauten, sind dem anderen seine "Cassava/Maniok-Surrogate".

Schön langsam nimmt die "Nachbaueritis" in der Paleo-Welt groteske Züge an. Obwohl ein jeder, der sich für Paleo interessiert, versteht und akzeptiert, dass der Konsum von Getreiden und Hülsenfrüchten aufgrund ihres hohen Gehaltes an Antinutrients keine gute Idee ist und man auch den Nachschattengewächsen zumindest mit Respekt und Zurückhaltung begegnet, will sich eine zunehmende Zahl von Spezialistinnen und Spezialisten nicht damit abfinden, dass es besser ist, Brot, Pizza, Kuchen, Nudeln, Müsli und dergleichen Speisen des Neolitikums und Industrialisierungszeitalters schlicht und einfach aus dem Bewußtsein zu entfernen. Nein - statt dessen wird mit allerlei Klimmzügen mit Ersatzprodukten ernährungstechnischer Schindluder getrieben, die von cleveren Geschäftemachern mittlerweile als angeblich gesunde Alternativen und als paleokonform angepriesen und vermarktet werden.

Neben diversen Nussmehlen spielt hier zunehmend Cassava (syn. Kassave, Maniok, Mandioka, Yuca) eine Rolle - eine ursprünglich in Südamerika beheimatete, stärkehaltige und proteinarme Wurzelknolle aus der Familie der Wolfsmilchgewächse, die heute weltweit in tropischen und subtropischen Regionen angebaut wird und in diesen Regionen zu den Säulen der Ernährung der vor allem armen Bevölkerung und des Viehs zählt.

Warum lehne ich Cassava (und alles was daraus gemacht wird) im Rahmen einer korrekt verstandenen Paleo-Ernährung rundweg ab? Das will ich Euch gerne darlegen...
von Robert Bock

Zunächst ...was steht bei Wikipedia zur Toxizität von Cassava zu lesen:

"Cassava roots and leaves should not be consumed raw because they contain two cyanogenic glucosides, linamarin and lotaustralin. These are decomposed by linamarase, a naturally occurring enzyme in cassava, liberating hydrogen cyanide (HCN). Cassava varieties are often categorized as either sweet or bitter, signifying the absence or presence of toxic levels of cyanogenic glucosides, respectively. The so-called sweet (actually not bitter) cultivars can produce as little as 20 milligrams of cyanide (CN) per kilogram of fresh roots, whereas bitter ones may produce more than 50 times as much (1 g/kg). Cassavas grown during drought are especially high in these toxins. A dose of 25 mg of pure cassava cyanogenic glucoside, which contains 2.5 mg of cyanide, is sufficient to kill a rat. Excess cyanide residue from improper preparation is known to cause acute cyanide intoxication, and goiters, and has been linked to ataxia (a neurological disorder affecting the ability to walk, also known as konzo).It has also been linked to tropical calcific pancreatitis in humans, leading to chronic pancreatitis.
Societies that traditionally eat cassava generally understand some processing (soaking, cooking, fermentation, etc.) is necessary to avoid getting sick.
Symptoms of acute cyanide intoxication appear four or more hours after ingesting raw or poorly processed cassava: vertigo, vomiting, and collapse. In some cases, death may result within one or two hours. It can be treated easily with an injection of thiosulfate (which makes sulfur available for the patient's body to detoxify by converting the poisonous cyanide into thiocyanate .Chronic, low-level cyanide exposure is associated with the development of goiter and with tropical ataxic neuropathy, a nerve-damaging disorder that renders a person unsteady and uncoordinated. Severe cyanide poisoning, particularly during famines, is associated with outbreaks of a debilitating, irreversible paralytic disorder called konzo and, in some cases, death. The incidence of konzo and tropical ataxic neuropathy can be as high as 3% in some areas."

Kurze Unterbrechung: Es dreht sich um Antinutrients, die zu Blausäurevergiftungen führen, falls man Cassava roh oder in unzureichend be- und verarbeiteter Form zu sich nimmt. Wer Lust auf die Ausbildung eines Kropfes (goiter) hat oder es sich vergnüglich vorstellen kann unter Störung der Bewegungskoordination zu leiden, seine Bauchspeicheldrüse verkalken lassen möchte und eine chronische Bauchspeichendrüsenentzündung provozieren will (bei sich selbst, versteht sich), der sollte Cassava-Produkte zu einem Grundnahrungsmitteln machen. Wer Schwindel, Übergeben und Kollabieren als sportliche Herausforderung annehmen möchte und selbst einen, binnen ein, zwei Stunden einsetzenden Tod nicht fürchtet, der konsumiere die Knollen idealerweise gleich roh. Drei Prozent der Bevölkerung in einigen cassava-abhängigen Regionen leiden unter entsprechenden Schädigungen. Mit denen könnte man dann ja internationale Selbsthilfgruppen einrichten und auf diesem Wege zur Völkerverständigung beitragen.

Aber ich habe Wikipedia unterbrochen - weiter im dortigen Text:

"Brief soaking (four hours) of cassava is not sufficient, but soaking for 18–24 hours can remove up to half the level of cyanide. Drying may not be sufficient, either.
For some smaller-rooted, sweet varieties, cooking is sufficient to eliminate all toxicity. The cyanide is carried away in the processing water and the amounts produced in domestic consumption are too small to have environmental impact. The larger-rooted, bitter varieties used for production of flour or starch must be processed to remove the cyanogenic glucosides. and then ground into flour, which is then soaked in water, squeezed dry several times, and toasted. The starch grains that float to the surface during the soaking process are also used in cooking.The flour is used throughout South America and the Caribbean. Industrial production of cassava flour, even at the cottage level, may generate enough cyanide and cyanogenic glycosides in the effluents to have a severe environmental impact.
A safe processing method used by the pre-Columbian indigenous people of the Americas is to mix the cassava flour with water into a thick paste and then let it stand in the shade for five hours in a thin layer spread over a basket. In that time, about 83% of the cyanogenic glycosides are broken down by the linamarase; the resulting hydrogen cyanide escapes to the atmosphere, making the flour safe for consumption the same evening.
The traditional method used in West Africa is to peel the roots and put them into water for three days to ferment. The roots then are dried or cooked. In Nigeria and several other west African countries, including Ghana, Benin, Togo, Ivory Coast, and Burkina Faso, they are usually grated and lightly fried in palm oil to preserve them. The result is a foodstuff called gari. Fermentation is also used in other places such as Indonesia (see Tapai). The fermentation process also reduces the level of antinutrients, making the cassava a more nutritious food.
The reliance on cassava as a food source and the resulting exposure to the goitrogenic effects of thiocyanate has been responsible for the endemic goiters seen in the Akoko area of southwestern Nigeria.
People dependent on cassava risk cyanide poisoning and malnutrition diseases such as kwashiorkor and endemic goiter."

Es ist nur bei bestimmten kleineren, süßen Sorten möglich, die Blausäure durch ausgiebige Bearbeitung vollständig zu reduzieren. Die Sorten, die für die Produktion des bei den "Cassavamehlnachbauern" beliebten Mehles verwendet werden, zählen aber nicht zu dieser Kategorie. D.h. man setzt sich potenziell einer schleichenden Low-Level-Vergiftung mit Blausäure aus, wenn man Cassava regelmäßig als Ersatz für Getreidemehl oder für Müslis verwendet, wie ich erst heute wieder mit Entsetzen in einem anderen Blog, der sich mit dem Attribut Paleo schmückt, entdecken mußte.

Auch durch Fermentation lassen sich die Antinutrients lediglich reduzieren, aber nicht vollständig beseitigen. Je regelmäßiger man also dieses überflüssige Teufelszeug zu sich nimmt, desto größer die Gefahr einer schleichenden Intoxination und möglicher Spätfolgen. Wird Euch nicht passieren, liebe Cassavamehlnachbauarchitekten? Schön, dass Ihr Euch da so sicher seid! ich drück Euch beide Daumen, dass die Charge an Cassavamehl, welches Ihr verwendet, von unabhängigen, unbestechlichen Lebensmitteltechnikern in Südamerika oder Afrika penibel auf ihren Gehalt an Toxinen geprüft wurde, bevor es in Verkehr gelangt ist. Man weiß ja, dass man sich auf die Behörden in solchen Gegenden der Welt verlassen kann....

Eine zentrale Idee der Paleo-Ernährung des 21. Jahrhunderts, ist aber doch gerade die Vermeidung von Nahrungsmitteln, die einen vergleichsweise hohen Gehalt an Antinutrients aufweisen. Solche kamen als Basisnahrung erst mit der Neolithischen Revolution auf die Agenda, als die Vielfalt der Nahrungsgrundlagen sich auf eine handvoll domestizierbarer Pflanzen verdichtete und damit auch das Problem systematischer Vergiftung durch die immer gleichen Low-Level-Toxine.

Es geht nicht darum, so zu leben und zu essen wie ein Steinzeitmensch. Emulieren heißt nicht Imitieren!
Das Imitieren ist aus vielerlei Gründen gar nicht mehr möglich. Abgesehen davon: Da die Cassava-Wurzel in Südamerika beheimatet ist, ist sie auch keine Nahrungsgrundlage, mit der unser Stoffwechsel in Afrika evolvierte. Daher sind wir wohl gegen ihre Phytochemika auch wehrlos, wenn wir nicht unsere Technik einsetzen und das Zeug denaturieren. Nicht anders gehen wir "Paleoten" mit Pflanzennahrung um, wenn wir Hülsenfrüchte wässern, keimen, fermentieren und erhitzen, Getreide so weiss wie möglich ausmahlen, hoher Hitze aussetzen usw. Genau solche, in hohem Maße denaturierungspflichtige Lebensmittel, haben aber in einer Paleo-Ernährung des 21. Jahrhunderts nichts verloren. Warum dann also ausgerechnet Cassava als Alternative?!? Ein Produkt das einer Denaturierungstechnologie bedarf, die der von Sojaprodukten wenig nachsteht, um den Gehalt an Toxinen auf  ein Maß zu reduzieren, dass man nicht gleich an Ort und Stelle daran zugrunde geht.

Wenn irgendein Schwachkopf auf einer deutschen oder amerikanischen Paleo-Seite das Gegenteil behauptet, dann bitte nachprüfen, warum er/sie dies tut. Entweder er ist einfach nur naiver Schwachkopf, oder aber ein geschäftstüchtiger Schwachkopf. Deshalb unbedingt die zugehörigen Webshops und Werbepartner auf der Website abchecken. Surprise, surprise.

Schon gewußt, dass z.B. Mark Sisson schon lange bevor er "Primal" für sich entdeckte und alle Hebel des Marketing in Aktion setzte, einen florierenden Shop mit Nahrungsergänzungsmitteln betrieb? Mehr will ich dazu gar nicht sagen. Warum? Richtig: Da wird mir übel. Von Leuten wie ihm, darf man keine Unvoreingenommenheit in kitzligen Fragen wie dieser erwarten.

Ganz abgesehen von der ernährungsphysiologischen Seite: Wie zu lesen steht, führt die industrielle Entgiftung von Cassava im großen Stil zu massiven Umweltbelastungen durch Blausäureverbindungen. Wer gerne Verantwortung übernimmt, der kann sich durch den Kauf von Cassava-Produkten eine Mitverantwortung an menschengemachten ökologischen Problemen in den Tropen auf die Schultern packen. Unser Land braucht Menschen, die gerne Verantwortung tragen, also nur zu. Je mehr wir davon kaufen, desto mehr wird dort produziert, wofür natürlich Regenwald weichen muß. Oder aber die Ware dort wird in den Tropen knapp, weil wir sie den Einheimischen vor der Nase wegkaufen, die Preise steigen und die Einheimischen leiden Hunger, vergiften sich aber weniger.

Interessanterweise liest sich die deutsche Wikipedia-Variante deutlich entschärfter, als die englische. Dort wird m.E. durchgehend der Eindruck erweckt, dass der Gehalt an Antinutrients nach der Denaturierung generell Null ist, was aber durch die referenzierten Quellen mitnichten gestützt wird. Mein Verdacht: Da haben sich mal wieder PR-Knechte der offenen Plattform Wikipedia bemächtigt, um nur ja keine unliebsame Diskussion um Giftstoffe in Cassava-Produkten aufkommen zu lassen. Wer interessiert sich schon dafür im deutschsprachigen Raum außer uns Freaks, mal ehrlich? Da könnte eine kleine Clique schalten und walten, wie sie will, wenn sie will. Möglicherweise sogar die gleichen Leute, die in ihren (Paleo)-Blogs ausgiebigst mit diesem potentiell gesundheitsschädlichen Dreck hantieren, diesen als glutenfreie Alternative propagieren und teils auch verkaufen oder dies vorhaben zu tun?

Ich könnte kotzen, Leute. Ehrlich. Das deutsche Wikipedia ist, was Gesundheitsthemen angeht, voll von solchen Manipulationen der einschlägigen Lobbyisten. Lest bitte immer und grundsätzlich das englische (und/oder weitere) Wikipedia dazu sowie die referenzierten Originalquellen, in denen oft etwas völlig anderes zu lesen steht, als das, was in Wikipedia behauptet wird. Was Cassava angeht, habe ich nicht nur die referenzierten Quellen geprüft, sondern weitere hinzugezogen (z.B. hier und die dort referenzierte Primärliteratur oder die Einträge bei PubMed), die meinen Standpunkt auf Basis von empirischen Fakten ziemlich uneingeschränkt unterfüttern.

Warum kann nun Cassava und alles was daraus fabriziert wird, nie und nimmer paleokonform sein?

Lasst uns mal gemeinsam auf das Wesentliche besinnen.

Ray Audette, einer der Pioniere der populärwissenschaftlichen Aufbereitung der Idee steinzeitlicher Ernährung der Postmoderne, schreibt in seinem Buch "Neanderthin" von 1999 (ich liebe es!) als Basisregel in Zweifelsfragen folgendes (S. 61):

"When in doubt about any food, apply the basic principle of Paleolithic nutrition: 

Would this be edible when found in its natural state and without technology? 

If the food in question passes this test, it may be eaten without fear."

Darf ich nochmal daran erinnern, was Wikipedia schreibt?

"Cassava roots and leaves should not be consumed raw because they contain two cyanogenic glucosides, linamarin and lotaustralin."

Denken wir's also mit Ray's Regel gemeinsam zu Ende:

Würden wir eine Cassava-Wurzel draußen in der Natur ausbuddeln und würden wir sie ohne Einsatz von Technologie, so wie wir sie finden, verzehren, dann hätten wir wohl noch rund ein, zwei Stunden Zeit über unser Leben nachzudenken, das bald hinter uns liegen würde. Ein letztes mal würden wir kontrollieren, ob wir auch den Rechner runtergefahren und die Kaffeemaschine oder das Bügeleisen ausgeschaltet haben, dann wäre es an der Zeit sich zu verabschieden. Vielleicht würden wir noch einen Zettel für die Nachwelt hinterlassen, auf dem etwas geschrieben stünde wie: "Cassava? Lass' bloß den Scheiß!". Was tut man nicht alles für ein gutes Karma auf dem Weg in ein hoffentlich cassavafreies nächstes Leben? Sollte es keines geben, war's eben die ultimative Erfahrung.

Mal im Ernst: Bevor ich so einen Dreck wie Cassava esse, gönne ich mir lieber ein paar, im Gegensatz dazu, ziemlich harmlose Kartoffeln und würde ich mich dabei ertappen, dass ich über die Giftigkeit von Getreide, Linsen, Bohnen und Soja herziehe, aber mir ohne Skrupel Tag für Tag ein Müsli aus Cassava reinpfeife, dann würde ich mir einmal heftig von einer wohlmeinenden Person auf den Hinterkopf hauen lassen. Leichte Schläge auf selbigen fördern ja angeblich das Denkvermögen. Schlimm genug, wenn die ärmsten der Armen in vielen Gegenden der Welt gezwungen sind, sich von so einem Fraß zu ernähren, warum sollten wir uns das ohne Not antun, wenn wir so viele unproblematiche Alternativen haben, uns Tag für Tag satt zu essen?

(Re-Post vom 14.05.2015)