Mittwoch, 16. März 2016

Never-Ever-Paleo: "Nussmehlnachbauten"

Bild:pixabay
Der Verzicht auf Getreideprodukten ist ein wesentliches Element einer Emulation einer an paläolithischen Vorbildern orientierten Ernährung im 21. Jahrhundert. Längst existiert ein Fundus an seriös gemachten lebensmittelchemischen und medizinischen Studien, die den negativen Einfluß von Bestandteilen des vollen Korns auf die Gesundheit des Menschen belegen. Ob es nun das Getreideprotein Gluten ist, Lektine wie z.B. Wheat Germ-Agglutinin, ob es Phytinsäure oder Exorphine mit opioidähnlicher Wirkung, der hohe Gehalt an entzündungsfördernden Omega-6-Fettsäuren im Keimling und die ausgesprochen schlechte Balance zwischen den mehrfach ungesättigten Fetten - auf all diese Dinge will ich gar nicht näher eingehen.

Was vielen Umsteigern auf eine Paleo- oder auch LCHF-Ernährung schwerfällt, ist erfahrungsgemäß der Verzicht auf gewohnte, liebgewonnene Speisen wie Nudeln, Brot und andere süße und salzige Backwaren. Die anfangs langen Gesichter hellen sich allerdings regelmäßig auf, wenn die Betroffenen auf "Nussmehlnachbauten" aufmerksam werden: "Den Mächten des Schicksals sei dank - ich kann weiterfuttern wie immer, ich kann statt Getreidemehlen Nussmehle verwenden. Die sind paleokonform, heißt es und alles in allem viel gesünder, weil sie all das giftige Zeug nicht enthalten, mit dem mich meine Bäckerei bislang schleichend vergiftet hat".

Sorry, wenn ich wieder mal Wasser in den Wein gießen muß, Leute: "Nussmehlnachbauten" sind mitnichten unproblematisch! Sie sind, wenn auch im Detail auf andere Weise, aber dennoch ein Gesundheitsrisiko, und haben deswegen in einer richtig verstandenen Paleo-Ernährung als Grundnahrungsmittel nichts verloren! Warum? Ich werde es Euch gerne begründen...
von Robert Bock

Erst neulich finde ich in einem anderen Blog - einem m.E. ganz schlimmen Blog, was die Vereinnahmung der Ideen der Steinzeiternährung zu kommerziellen Zwecken angeht - ein Rezept für ein "Dunkles Paleo-Brot".

Die Zutatenliste, die ziemlich repräsentativ für andere Nussmehlnachbauten ist, liest sich wie folgt, wobei ich die besonders fragwürdigen Ingredenzien fett hervorgehoben habe, auf die ich mich im Weiteren konzentrieren will:

  • "90 g Mandelmehl
  • 35 g Leinsamenflocken
  • 50 g Leinsamenmehl
  • 25 g Kokosmehl
  • 15 g Flohsamenschale
  • 1 gestrichener TL Natron
  • 1 gestrichener TL Salz
  • 1 gestrichener TL Askorbinsäure (Vitamin C) oder 1 EL Apfelessig
  • 1 gestrichener TL Xylit/Erythrit
  • 1 TL geriebener Kümmel
  • 5 Eier (250 g)
  • 100 ml Wasser (100g)"

Gebacken werden soll das Brot laut Rezept zunächst 30 Minuten lang bei 200 Grad, danach weitere 35-40 Minuten bei 180 Grad Celsius.

Eine zentrale Hypothese der Paleo-Ernährung ist die Minimierung von Antinurtients, Inhaltstoffen von Lebensmittel überwiegend pflanzlicher Herkunft, die unsere Gesundheit beeinträchtigen können, Stoffe die Pflanzen als Abwehrmittel gegen Fressfeinde einsetzen.

Als ein Grund auf Getreide zu verzichten, wird von den Paleo-Theoretikern dessen hoher Gehalt an Phytinsäure genannt.

Weizen enthält 906mg/100g von dieser Substanz, die eine Verbindung mit diversen Mineralstoffen und Spurenelementen eingeht, die dann über den Stuhl ausgeschieden werden, was zu schleichender Unterversorgung mit diesen essentiellen Mikronährstoffen führen kann: Die meisten Nussmehle haben sogar einen teils dramatisch höheren Gehalt an Phytinsäure als klassische Getreidemehle.

Ein Blick auf das Rezept und den Gehalt an Phytinsäure der enthaltenen Nüsse und Samen:

Mandeln: bis zu 3220 mg/100g (3,55-fache Menge gegenüber Weizen)
Leinsamen: bis zu 2780 mg/100g (3,07-fache Menge gegenüber Weizen)
Kokosmehl: 1170mg/100g (1,2-fache Menge gegenüber Weizen)

Gehe ich davon aus, dass im vorliegenden, exemplarischen "Paleo-Brot-Nussmehlnachbau" 200g Weizenvollkornmehl durch 200g Produkte aus Leinsamen, Mandeln und Kokosnuss substituiert wurden, dann ergibt sich durch diese Subsitution eine Gesamtmenge von 2898mg (Mandeln) +2363mg (Leinsamen) + 293mg (Kokos) = 5554mg Phytinsäure. Die Verwendung von 200g Vollkornweizen hätte hingegen in der Summe lediglich 1812mg an Phytinsäure gebracht.

Das bedeutet, dass man sich gegenüber einem Vollkornbrot ceteris paribus die dreifache Dosis dieser bedenklichen Substanz durch das Nussbrot zuführt!

Doch nicht nur das ist ein Problem: Nüsse und Samen sind i.d.R. reich an mehrfach ungesättigten Fettsäuren (PUFA).

Die Zufuhr dieser Fettsäuren ist essentiell, aber sollte nach Stand der Forschung ein Maß von ca. 10g pro Tag nicht chronisch überschreiten, wobei das Verhältnis von Omega 6 zu Omega 3 (die n6:n3-Ratio) idealerweise unter 4:1 liegen sollte.

Mandeln enthalten pro 100g ca. 12,1g PUFA. 12g vom entzündungsförderndem Typ Omega 6, knapp unter 0,1g vom entzündungsdämpfenden Typ Omega 3. Dies führt zu einer n6:n3-Ratio von 2000:1
Leinsamen enthalten pro 100g 28,7g PUFA (22,8g n6, 5,9g n3; Ratio: 4:1)
Kokosmehl liefert lediglich ca. 0,7g PUFA, diese komplett vom Typ Omega 6. Die n6:n3-Ratio strebt folglich gegen Unendlich, wobei aber die Menge an n6 im Kokosmehl so gering ist, dass das isoliert gesehen kein größeres Problem darstellt.

Unser exemplarisches "Paleo-Brot" führt demjenigen, der es komplett verzehrt, in der Summe rechnerisch 31,6g n6 und 6g n3 zu. In der Summe 37,6g PUFA (die etwa 3,7-fache ratsame Tagesdosis) bei einer noch akzeptablen n6:n3-Ration von 5,3:1.

Doch halt! Ist diese Rate wirklich akzeptabel? Die Omega-3-Fette stammen aus pflanzlichen Quellen und diese werden gegenüber tierischen Quellen nur extrem ineffizient in verwertbare Omega-3-Fett (DHA und EPA) in unserem Körper umgewandelt. Nach Stand der Forschung bewegt sich die Umwandlungsrate für EPA unter 10%, für DHA unter 5%. Lasst mich großzügig sein und für beide 10% ansetzen, dann reduziert sich die effektiv nutzbare n3-Menge des Nussnachbaus auf ein Zehntel, also 0,6g und die n6:n3-Ratio klettert auf atemberaubende 53:1. Eine mehr als ernüchternde Rechnung - zumindest nach meinem Dafürhalten.

Anmerkung: Die Eier und ihre Fettstruktur habe ich in dieses Rechenexempel nicht einbezogen - doch auch hier dominieren mengenmäßig die n6 über die n3-Fette, jedoch enthalten Hühnereier auch direkt verwertbares DHA/EPA, mengenmäßig abhängig davon, inwieweit die Hühner artgerecht bzw. reich an pflanzlichem n6 gefüttert wurden.

War's das? Noch lange nicht: Es fehlen z.B. noch die Lektine.

Wenn man diese beim Getreide als gefährlich und vermeidenswürdig einstuft, dann sollte man dies m.E. auch bei Nüssen und Samen tun. Die Lektine in Nüssen und Samen hemmen z.B. Verdauungsenzyme. So unterbinden die in rohen Mandeln enthaltenen Proteasehemmer die Zerlegung der Proteine in Aminosäuren und machen so die an sich wertvollen Proteine in den Nüssen schwer- bis unverdaulich. Braucht Ihr so etwas in nennenswerten Mengen in Eurer täglichen Ernährung? Ich nicht. Erhitzen auf hohe Temperaturen hilft hier - tötet aber hitzeempfindliche Vitamine und wertvolle Enzyme ab und richtet anderen Schaden an, auf den ich noch zu sprechen kommen werde.

Die völlig zu Unrecht aus kommerziellen Gründen verharmloste Kokosnuss (und ihr Öl), enthält nicht nur mehr Phytinsäure als Weizen, sondern zudem ist sie besonders ausgeprägt reich an Salicylaten. Regelmäßige Exposition mit diesen Substanzen kann nicht ganz ungefährlich sein. Insbesondere dann nicht, wenn jemand (ohne dies zu wissen...) eine Sensitivität bzgl. dieser Stoffe (entwickelt) hat, die sich sehr ähnlich äußert wie eine Sensitivität gegen Histamin. Was die Kokosnuss angeht wird im WWW gelogen, dass sich die Balken biegen oder aus Unwissenheit und Faulheit oder Unfähigkeit zur eigenen Recherche Blödsinn von Blödsinnproduzenten wie Bruce Fife abgeschrieben, der die Kokosnuss zum Manna stilisiert, zum Allheilmittel für alle seelischen und körperliche Gebrechen und Inkarnation metaphysischer Göttlichkeit in Form einer Nuss. Die Anbetung einer Nuss - das hatten wir meines Wissens in der Menschheitsgeschichte noch nicht, Bruce Fife zeigt, wie's geht. Möge er nicht von einer herabfallenden Kokosnuss erschlagen werden, falls er mal wieder durch heilige Haine hampelt und mögen genügend neue Dummköpfe nachkommen, die seine Bücher vollumfänglich ernst nehmen und sich in Erwartung von Wundern, mit Kokosöl innerlich und äußerlich einbalsamieren. Nichts gegen Kokosnüsse und Kokosöl an sich, Leute, aber auch hier gilt: Die Dosis macht das Gift und eine zentrale Basis der überragenden Gesundheit von Jäger-und-Sammler-Populationen war einerseits eine enorm abwechslungsreiche Ernährung und konzentrierte pflanzliche Öle gab es in der Altsteinzeit gar nicht und Kokosöl schon überhaupt nicht. Die Kokosnuss ist keine autochton afrikanische Pflanze und just in Afrika ist der Homo sapiens evolviert. Das Afrika-Argument ist kein zwingendes KO-Kriterium, aber eines, das tiefergehende Betrachtung eines Nahrungsmittels des 21. Jahrhunderts nahelegt.

Das war's jetzt aber, oder? Nein, sorry.

Werden Nüsse und Samen gemahlen, wird das Mehl dem Luftsauerstoff ausgesetzt. Insbesondere PUFA sind dagegen extrem empfindlich und oxidieren. Dieses "Ranzigwerden" führt zur Entstehung potenziell gesundheitsschädlicher Substanzen. Zur Erinnerung: Das exemplarische "Paleo-Brot" enthält 37,6g PUFA. Viel Substanz, die oxidieren kann. Wird bereits gemahlenes Nussmehl verwendet (was wohl die Masse der HobbybäckerInnen tun würde), dann würde ich das Brot höchstens meinen Feinden vorsetzen. Ein entsprechender Hinweis der Rezeptautorin? Fehlanzeige. Keine Ahnung, folglich auch keine Warnung - so ist das leider mittlerweile in der bunten Paleo-Welt.

Jetzt ist aber genug, oder? Nein, noch immer nicht!

Was geschieht, wenn man Kohlenhydrate und Proteine (beides reichlich alleine in Nussmehlen enthalten, Eier sind ja auch noch reichlich drin, die Proteine liefern) einem Maillard-Prozeß aussetzt, sprich: Den Teig im Ofen backt? Richtig, es entsteht Acrylamid, eine möglicherweise krebserzeugende Substanz. Und das bereits bei Temperaturen über 120 Grad. Sprunghaft steigt die Acrylamidmenge an, wenn Temperaturen von 170 bis 180 Grad erreicht werden. Welche Temperaturen schlägt das Rezept vor? Zunächst 200 Grad, dann 180 Grad für den Rest der Backzeit. Ein entsprechender Hinweis der Rezeptautorin? Fehlanzeige. Keine Ahnung,.... .

Das Bundesamt für Risikobewertung hat eine teils irreversible gesundheitliche Beeinträchtigung auf Basis des derzeitigen Wissensstandes für Acrylamid als möglich erachtet, nachdem die Lebensmittelindustrie und die Bäcker begonnen hatten, Nebelkerzen zu werfen, als es vor ein paar Jahren und alarmierenden Schlagzeilen wirtschaftlich eng für sie zu werden drohte. Die Behörde rät den Verbrauchern zur Einhaltung von Vorsichtsmaßnahmen (z.B. niedrige Backtemperaturen) oder Verzicht. Nachzulesen ausführlich hier. Ich verzichte schon mal auf dieses exemplarische "Paleo-Brot" und rate Euch, es mir gleich zu tun.

Genug jetzt, bitte! Tut mir leid, aber einen hab ich noch:

Was hat dieser verdammte künstliche Süßstoff Xylit/Erytrit in einem "Paleo-Brot" verloren? Bei aller Liebe - so ein Frankensteinfutter hat im Rahmen einer Steinzeiternährung aber nun wirklich überhaupt nichts verloren! Wenn um des Geschmackes Willen etwas Süßes ran soll, dann in Gottes Namen ein Löffelchen Zucker (Honig besser nicht, weil der das Erhitzen gar nicht mag). Damit wird unser Stoffwechsel wenigstens nicht ausgetrickst und kohlenhydrattechnisch schlagen die Nüsse ohnehin schon so zu Buche, dass es schon egal drum ist.

Demnächst will die Seite, von der das Rezept stammt, einen "Shop" eröffnen. Wollen wir wetten, dass es dort dann auch diesen (oder einen anderen) angeblichen "Paleo-Süßstoff" geben wird? Die Gier nach Geld und mangehafte Sachkenntnis waren schon immer eine gefährliche Kombination. Man muß die Augen offen halten, sonst wird man nur verarscht und ausgenommen... . Paleo-Nudeln hat man dort schon im Programm. Soll ich Euch mal vorrechnen, wie viel Phytinsäure Nudeln auf Basis von Leinsamen- oder Sesammehl gegenüber Weizenmehlnudeln haben? Dort wird behauptet, dass Leinsamen und Sesam (bzw. diese obskuren Pseudo-Paleo-Nudeln daraus) keine Lektine enthalten würden - faktisch wohl eine grobe Unwahrheit am Rande der Verbrauchertäuschung, denn sowohl Leinsamen und Sesam enthalten selbstverständlich Lektine. Ob diese schädlich sind oder nicht, sei dahingestellt, aber sie sind enthalten. Meine Meinung: Ab in die Tonne mit solchen "Nussmehlnachbaunudeln", aber nicht in meinen Magen. Punkt.

So Leute - wer von Euch hat immer noch Bock auf  "Nussmehlnachbauten", nachdem er mit diesen Aspekten vertraut ist? 

Bedenkt, dass ich mir dieses Brotrezept nur exemplarisch rausgepickt habe. In früheren Zeiten hatte ich selbst mal ein, zwei solcher Rezepte in meinem Blog - bis ich tiefer in die geschilderte Problematik eingetaucht bin. Seither kann ich das nicht mehr verantworten und habe die Rezepte aus meinem Blog entfernt.

Solltet ihr solches Junk-Food ("Paleo"-Brot, -Kuchen, -Pasta,...) gönnen wollen, dann tut dies mit aller Umsicht und vor allem selten und besser gar nicht. Mach ich auch so: Alle paar Monate backe ich mal einen Kuchen, sollten wir Besuch von jemandem bekommen, von dem wir wissen, dass dieser Mensch für sein Leben gern Kuchen isst -  oder in der Vorweihnachtszeit mal ein paar Plätzchen. Die Dosis macht das Gift. Aber ansonsten lassen wir das lieber, weil wir es für vernünftiger halten, auf Nussmehlnachbauten zu verzichten und sie uns auch nicht fehlen.

Ihr tut Euch einen Gefallen, wenn ihr Euch von tradierten Ernährungsritualen, die auf Getreideprodukten basieren, mental und emotional löst und "richtige Nahrung", solche die wirklich natürlich und arm an Aninutrients ist, solche, die auch durch die Art der Zubereitung nicht zum Risiko wird, zu gönnen. Der bedachte Umgang mit Nüssen und Samen will verstanden sein. Reicht ja, wenn sich die Veganer damit schädigen, müssen wir "Paleoten" ja nicht die gleichen dummen Fehler machen, oder?

In so gut wie allen pflanzlichen Nahrungsmitteln sind nolens volens Antinutrients enhalten - ich meine, man sollte die regelmäßige Gesamtdosis niedrig halten und vor allem die Toxin-Schwergewichte (vor allem Getreide und Hülsenfrüchte) meiden oder zumindest limitieren und sie keinesfalls zu Säulen der täglichen Ernährung machen. Nüsse und Samen gehören leider zu den "Sorgenkindern".

(Re-Post von 2014)