Samstag, 26. April 2014

Gastbeitrag: Marktgeschrei

Foto: Franziska du Puits
Seit mir Roberts Angebot zum Gastbeitrag Jubelschreie entlockte, sind ein paar Tage vergangen. Ich habe die Frage „Worum geht es (mir) eigentlich?“ wieder- und wiedergekäut und bin den weiteren Kommentaren zum Artikel „Vegetarische Ernährung für Kleinkinder?“ gefolgt. Dort ist mir eine Tendenz aufgefallen, welche mir nun als Einstieg dienen wird. 

Marc-:´s Einverständnis seine Worte vom 18.04.14 zitieren zu dürfen vorausgesetzt:

„Warum lässt „man“ uns nicht einfach in Ruhe (und) unser Ding machen? Warum gibt es immer wieder Menschen, D.ieG.erneE.rmahnen und uns sagen wollen, was richtig ist und vor allem, was wir deren Meinung nach alles falsch machen.“

Ich will den Versuch einer Antwort im Gewand einer Gegenfrage servieren: 

Sind wir denn  noch in der Lage, ohne Vorgaben – bedeutet auch ohne wissenschaftliche Nachweise über Sinn oder Unsinn – unsere Entscheidungen zu treffen?
von Franziska du Puits


Ich melde Zweifel an. Dafür scheint mir das ganze schon zu weit fortgeschritten. Wir sind nicht diktatorisch unterjocht worden. Es gibt keine „die“, denen wir die Verantwortung  zuschieben und nun ein „lasst uns doch in Ruhe!“ zurufen könnten. Unsere Lebensumstände haben wir gestaltet, Schritt für Schritt – Generation für Generation. Was wir für wichtig erachten, wie wir unsere Prioritäten setzen – das formt die Lebensumstände unserer Kinder. Früher wie heute. Insgeheim wünschen sich alle Eltern, ihre Kinder mögen ihnen auch später noch nahe sein. Unsere Sicht auf sie, unser Umgang mit ihnen heute wird uns der Erfüllung dieses Wunsches aber kaum näher bringen. Deshalb ist er inzwischen vielleicht auch geheim … aber immerhin ist er noch nicht tot. Offiziell wird erwartet, dass sich die Kinder entfernen, dass sie keine Zeit mehr für, kein Interesse an den Eltern mehr haben werden. „Die haben doch ihr eigenes Leben.“ ist ein oft gesprochener Satz. Schon richtig - und da gehören in die Jahre gekommene Eltern nicht mehr dazu? 

Aber zurück zum Thema – wir tanzen ja hier auf dem Tisch, soll heißen es geht ums Essen.

Ich denke, die mangelnde oder verkümmerte Fähigkeit, den eigenen Instinkt als solchen wahrzunehmen oder ihm zu folgen, wird durch zwanghafte Kontrolle und Regeln ersetzt. Oder anders herum – die Lust alles zu regeln, nicht weil eine direkte Notwendigkeit dafür besteht sondern schlicht weil es möglich ist, tötet jeden Instinkt. Kinder zeigen bspw. direkt nach der Geburt an, wenn sie sich erleichtern müssen. Mit Gespür und Aufmerksamkeit, können die Eltern dieses Signal wahrnehmen. Darauf basiert das Prinzip der Windelfreiheit (die Praxistauglichkeit in unseren Breiten soll hier nicht Thema sein). Werden diese Signale allerdings eine Weile ignoriert, stellt sie das Kind ein. Das Zeichen-Repertoire beschränkt sich aber nicht nur aufs Pipi… Putzigerweise etabliert sich gerade ein neuer Trend aus den Staaten, so called „baby signs“. Und dort geht es nicht darum, die Eltern für die Signale ihrer Kinder zu sensibilisieren, sondern den Kindern Zeichen beizubringen, die in einem entsprechendem Buch stehen und in einem entsprechenden Kurs von einer entsprechend zertifizierten Kursleiterin vermittelt werden. Gegen entsprechendes Entgeld natürlich. Hüstel … Auf den ersten Blick ein schöner Gedanke – schließlich geht es um die Verbesserung der Kommunikation zwischen den Generationen und mit einem Zeichen kann das Kind schon eher deutlich machen, dass es keinen Keks essen sondern in der Dusche spielen möchte. Was will man dagegen sagen, schließlich geht es um die Kinder!!

 

Abstecher: Vor zwei Jahren im Herbst hatten wir in der Dämmerung einen Lampionumzug der Schule – in beachtlicher Polizeibegleitung und mit dem Großteil der Kinder in Warnwesten. Wer würde es wagen zu sagen „Kommt, zieht mal die Westen aus, man sieht die Lampions gar nicht mehr …“? Das käme wahrscheinlich dem Tatbestand der Körperverletzung gleich.  … will sagen, ist der Schritt getan, wird die Umkehr fast unmöglich.


Bist Du nicht mit uns, dann bist Du gegen uns. Mit diesem Totschlagargument kann man alles verkaufen – schon mal vom Nasenabsaugeraufsatz für den Staubsauger gehört? Wöllte ich sowas bei meiner Tochter versuchen, um ihr Erleichterung im Geschniefe zu verschaffen, müsste ich sie festbinden und ihren Kopf fixieren. Und dann noch den Staubsauger bedienen. Gibt es schon eine passende Therapie für ein Trauma durch den Staubsauger oder bin ich gerade auf eine Marktlücke gestoßen?! Muhaha! Ein kräftiger Nieser hat die gleiche Wirkung…

Wir haben uns ein Regelwerk gezüchtet, das sich aufmacht uns zu fressen. 


Kleiner Alltagsexkurs: Der viel zitierten DGE eV kann man als Erwachsener vielleicht gut ausweichen, als Eltern kaum. Sie ist Grundlage für die Kita- und Schulversorgung. Wenn sich Eltern aufmachen, hier eine Qualitätsverbesserung zu erzielen, geht es nicht darum, Küchen wieder in den Einrichtungen zu etablieren. Es geht in erster Linie darum, weitere Standards zu schaffen. Leitfäden für die Eltern, nach denen sie die Wahl ihrer Kinder lenken sollen. Wir könnten im Bestellsystem einem Smiley folgen und wären damit „richtliniengetreu“ versorgt. Idiotensicher quasi. In unserer Schule gibt es vier Essen zur Auswahl und trotzdem buckeln die Angestellten täglich kübelweise Weggeschmissenes zur Tonne. Dat is halt so … In der zweiten Klasse gab es ein „gesunde Ernährung“s-Projekt. Eine Ernährungsberaterin wurde eingeladen, welche ordentlich entlöhnt mit den Kindern „Gesichter-Schnitten“ zubereiten wollte. Ich habe mir angesehen, was die Frau so aus ihren Taschen holte: ein vorgeschnittenes eingeschweißtes Brot, zwei folierte Paprika-Ampeln, zwei folierte Gurken, zwei, drei Becher Frischkäse – sämtlich aus dem Supermarkt nebenan. Dieses Ereignis wurde  durch die Lehrerin und der Elternschaft zu einem regelrechten Happening stilisiert. In der Folge kontrollierten die Kinder nach dem Vorbild der Lehrerin gegenseitig die Brotbüchsen. Und es formierte sich der vollkorn- und margarinebewehrte Kindermob, „das ist ungesund!!“-skandierend, sobald mein Sohn seine Dose öffnete. Geteilt hat er trotzdem weiterhin – das gute Kind. 


Als Eltern muss man schwer was auffahren, denn gerade in den Zeiten der Grundschule wiegt das Wort der Lehrerschaft manchmal mehr als das eigene. Das wäre die Tür zum Thema Bildung … ich lehne mich mal dagegen und lasse sie heute zu.


Aber einen weiteren Punkt möchte ich noch ansprechen. Das ist der der vermischten Bedürfnisse, der Begleitumstände. Es klingt so einfach: „Horcht mehr in Euch hinein und erspürt, was ihr braucht. Erfüllt Euer Bedürfnis sorgsam und FERTIG! Ziel erreicht.“ So einfach ist es leider bei den meisten nicht mehr. Auch hier ein Beispiel aus meinem persönlichen Schatz:


Ich bin Mutter zweier Kinder (einmal 9 Jahre, einmal 10 Monate) und wir sind das, was man eine „Einelternfamilie“ nennt. Es gibt Tage, da lebe ich hart an meiner Belastungsgrenze. Was mir dann gut tun würde, wären 10km straffes Wandern oder dreimal mit dem Rad übern Berg. Kann ich nicht, ist im Moment einfach nicht möglich. Ich weiche dann zeitweise auf Bitterschoki aus. Mein Körper braucht sicherlich keine Bitterschoki,  meine Seele schon. Und wer möchte sich aufschwingen, die Bedürfnisse meiner Seele zu verniedlichen? Wodurch auch immer sie motiviert sein mögen. Für wie viele Senioren ist es das höchste Glück, einem kleinen Händchen einen Keks zu reichen? Weil das Kind an dem Händchen abgemagert ausschaut? Nein, weil der Zureichende einsam ist. Wie viele Leute kompensieren ihre unbefriedigenden Tages- oder Lebensaufgaben durch Essen? Jeder mit einer Essstörung in seiner Biografie wird wissen, wie schwer es ist, ein verlorenes Körpergefühl wiederzufinden. Unter Stress kann ich nicht essen, nicht bedürfnisbefriedigend. Womit sich langsam der Kreis schließen lässt zur Ausgangsfrage:


Die vielen Richtlinien lesen sich immer „idiotensicherer“ – eventuell weil sich die meisten im Moment verhalten, wie welche? Durch das Befolgen der Leitfäden verpassen wir unseren Kindern von Beginn an eine (Ess)Störung, weil wir ihr Gefühl für „das ist jetzt richtig für mich“ negieren, wenn nicht gar als falsch betiteln. Daher braucht es immer weitere Leitfäden und wir verwandeln uns in eine Horde Schafe, die auch ohne Zögern den Kunstrasen von der Terasse wegfressen wird, zeigt nur irgendjemand eine passende Statistik. Der Inhalt der Statistik ist schon fast egal, wenn die Kurve am Ende nach oben geht. Na guten Appetit. Von den Interessen unserer Hirten mal ganz zu schweigen.


Was also tun? 


Ich schlage als erstes vor – schenken wir unseren Nachkommen das Vertrauen und den Respekt, den sie verdienen. Unsere Kinder sind keine Idioten. Sie sind nicht blöde, im Gegenteil. Da bin ich ganz bei Jeanne Liedloff – unsere Kinder sind soziale Wesen, die von Beginn an zur Gemeinschaft beitragen wollen. Sie kommen nicht auf die Welt, um uns auf den Senkel zu gehen. Achtet mal auf die Kommunikation zwischen Erwachsenen und Kindern. Ist das wertschätzend, respektvoll? Würde man so mit einem anderen Erwachsenen sprechen?

Ganz simples Beispiel: Eine umgestoßene Tasse am Tisch. Wer würde seine Arbeitskollegin dafür zur Schnecke machen und was entlädt sich oft, wenn einem Kind das passiert?


Ermöglichen wir Vielfalt (um nochmal kurz auf den Tisch zurückzusteigen), in dem wir bei Einladungen auf ein „Er isst nur Nudeln.“ verzichten. Mein Sohn hat seine Vorliebe für Blutwurst und Muscheln bei seinen Großeltern entdeckt.

Gestatten wir ihnen und uns selbst, individuell sein zu dürfen. Es gibt ganz unterschiedliche Menschen(formen). Worin unterscheidet sich die Klassifizierung und Normierung nach dem BMI von einer Einteilung in Haarfarben? Die Gesundheitskasse wird belastet, ist wohl so ein schlagendes Argument.  Aber was, wenn die ganzen Schwarzhaarigen sich die Schöpfe blondieren lassen, weil ich daher gehe und Schwarzhaarigkeit zum Problem erkläre. Die Hälfte bekommt Ausschlag auf der Kopfhaut, der anderen fallen die Haare komplett aus. Alle rennen zum Arzt und die Gesundheitskasse ächzt, von der Umweltbelastung mal ganz zu schweigen. Und ich fächere mir nach dem langsam verebbenden Lachkrampf Kühlung mit den Schecks der Perückenmacher, Blondierungshersteller und Salbenrührer zu. 


Passen wir die Zahl der Kinder, deren Kleidung alpingerecht ist der an, die bei Regen und Wind draußen spielen darf. Auch im Matsch, mit Händen und Füßen. Fördern wir die Eigenständigkeit, in dem wir eine Umgebung schaffen, die Freiheit bietet und weniger einschränkt. Vom „Warum?“ zum „Warum nicht?“. Wir sind Meister im (Früh)Fördern der Kinder bei fehlendem Anspruch. Wie würdet Ihr Euch fühlen, wenn ihr mal eben frische Handtücher aufgehangen habt und Euer Partner bekommt sich nicht mehr ein vor lauter „Aach, das hast Du aber TOLL gemacht!!“? Wie ein Idiot? Was hingegen bewirkt ein „Danke Dir.“ in Verbindung mit einem kleinen Lächeln: Wertschätzung, Wohlgefühl etwa? Warum sollte das bei Kindern anders sein? Sie orientieren sich an dem, was wir ihnen spiegeln. Spiegeln wir ihnen Unfähigkeit und soziale Inkompetenz werden sie sich bemühen, unsere Vorgaben zu erfüllen. Schließlich möchten sie unserem Bild genügen.

Wie gesagt – das ist alles fluffig geschrieben und Wissen und Handeln sind wie Römersandale und Stöckelschuh. Hier ein Umdenken und eine Handlungswende zu initiieren, braucht eine große Tüte Mut. Nicht zuletzt vermittelt das ganze Regelwerk eine Sicherheit bei fehlender Orientierung und verleitet zu dem Rückschluss, dass bei Aufgabe das Chaos droht. Hier darf ich meinerseits an Emil Zátopek erinnern

 „Wenn du laufen willst, lauf eine Meile. Wenn du ein neues Leben kennenlernen willst, dann lauf Marathon.


Und bis dahin – wenn Sohnemann grad gern Butter essen mag, kauft halt einfach ein Stück mehr.

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Franziska du Puits, Jahrgang 1980, lebt mit ihren zwei Kindern in Sachsen. Mit Abschluss im Orientierungslauf über lange Distanzen macht sie derzeit Erziehungsurlaub. Ihr Blog: fruehstuecksbratwurst.blogspot.com